Joe Biden weiß, welches Gewicht seine Worte haben. "The words of a president matter", sagte er schon im Präsidentschaftswahlkampf. Die Worte eines Präsidenten sind wichtig. Sie könnten Truppen entsenden, Frieden bringen, inspirieren oder aufstacheln. Nicht selten waren die Worte an Donald Trump adressiert, dessen oft unüberlegte Aussagen abermals zu einer Last wurden.
Die Worte eines Präsidenten können auch für helle Aufregung sorgen, selbst wenn sie sich an zwei Händen abzählen lassen, wie Biden am Samstag feststellen musste.
Seine Rede in der polnischen Hauptstadt Warschau sollte Abschluss und Höhepunkt sein, ein Ausrufezeichen nach seiner mehrtägigen Europareise und der eigentlichen Botschaft: Wir sind da. Wir halten zu euch. Wir, die USA, stehen an Europas Seite – in einem "Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung", wie Biden vor historischer Kulisse am Königsschloss sagte. Es herrscht Krieg, aber: "Fürchtet euch nicht". Das sagte schon der aus Polen stammenden Papst Johannes Paul II., und auch Biden wollte die beruhigenden Worte sprechen.
Am meisten Aufsehen zuteilwerden sollte hingegen neun Worten, mit denen Biden seine rund 27-minütige Rede beendete:
Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben. Dieser Mann ist Wladimir Putin, der Kriegstreiber aus dem Kreml.
Biden hat wohl nur laut ausgesprochen, was viele denken: Solange ein Mann wie Putin an der Macht ist, wird Europa nicht in Frieden leben können. Doch die Worte eines US-Präsidenten haben Gewicht. Besonders dann, wenn sie an den russischen Präsidenten adressiert sind, der ebenfalls über ein Atomwaffenarsenal verfügt und jede Provokation zum Anlass nehmen könnte, das Kriegsgeschehen in der Ukraine weiter zu eskalieren.
Neun Worte, mehrere Lesarten
Rüttelt der US-Präsident etwa am Stuhl des russischen Präsidenten, fordert gar dessen Sturz?
"Nein", dementierte Biden wortkarg am Sonntag entsprechende Deutungen. Zuvor hatte das Weiße Haus versucht, die Worte des Präsidenten wieder einzufangen. "Die Botschaft des Präsidenten war es, dass es Putin nicht erlaubt sein darf, Macht über seine Nachbarn oder die Region zu haben", lautete die etwas bemühte Erklärung. Auch US-Außenminister Antony Blinken versicherte: "Wir verfolgen keine Strategie eines Regimewechsels in Russland oder irgendwo anders".
Fotochronik des Ukraine-Krieges: Eine Unterschrift. Was folgt, sind Tod und Leid
Die eiligen Reaktionen zeigten, welche potenzielle Sprengkraft dem Satz auch in Washington zugeschrieben werden. Wörtlich genommen weicht Bidens Bemerkung, die laut US-Medien nicht im Redemanuskript des Präsidenten gestanden haben soll, von dem klaren Ziel ab, das die wochenlange Kriegsdiplomatie geprägt hat: Die territoriale Integrität der Ukraine zu verteidigen – und jeden Schritt gegen Russland im Einklang mit den europäischen Verbündeten zu gehen.
Das war schließlich die Botschaft, die von Bidens Besuch ausgehen sollte. Als erster US-Präsident hat er persönlich an einem regulären EU-Gipfel in Brüssel teilgenommen. Es war ein demonstrativer und symbolischer Schulterschluss mit den Partnern. Diese Botschaft ist nun in den Hintergrund gerückt – für neun Worte, die der Präsident in seiner Rede offenbar improvisiert hatte.
"Ich würde diese Art von Worten nicht verwenden", sagte der französische Präsident Emmanuel Macron am Sonntag in einem Fernsehinterview, als er gebeten wurde, die Rede zu kommentieren. Es gelte, "eine Eskalation der Worte wie der Handlungen" im Ukraine-Krieg zu verhindern. Bundeskanzler Olaf Scholz stellte sich hinter Biden und distanzierte sich von der Lesart, dass Putin gestürzt werden sollte: "Wir sind beide völlig einig, dass 'regime change' kein Gegenstand und Ziel von Politik ist, die wir miteinander verfolgen", sagte er am Sonntagabend im Interview bei "Anne Will". Die britische Regierung äußerte sich ähnlich.
Für Russland dürfte Bidens Bemerkung ein Geschenk darstellen. Die Staatspropaganda stellt Washington als imperialistischen Tyrannen dar, als eigentlichen Aggressor. Vor wenigen Tagen ächzte Ex-Präsident Dmitri Medwedew, die USA wollten Russland "zerstören".
In einer ersten Stellungnahme zu Bidens Äußerungen betonte Putins Sprecher Dmitri Peskow daher genüsslich, die USA hätten keine Mitsprache über die Führung in Russland. "Das entscheidet nicht Biden, der Präsident Russlands wird vom russischen Volk gewählt", sagte Peskow. Der russische Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin kommentierte auf Telegram: "Biden ist schwach, krank und unglücklich." Die US-Bürger "sollten sich schämen für ihren Präsidenten".
Biden hat bisher wenig Zweifel daran gelassen, dass er einen Machtwechsel im Kreml begrüßen würde. Er bezeichnete Putin schon als "Diktator", "Schlächter" und "Kriegsverbrecher" und schwörte bei seiner Rede in Warschau auf einen "großen Kampf um die Freiheit" ein, der nicht in "Tagen oder Monaten" zu gewinnen sei. Die womöglich missverstandene Forderung nach einem Sturz könnte dem Konfrontationskurs mit dem Kremlherrscher die Krone aufsetzen.
Joe Bidens (eigentliche) Botschaft
Was will Putin? Auch nach vier Wochen des russischen Angriffskrieges erweist sich eine Antwort als schwierig. Die Entscheidung über das Ende der Invasion scheint allein im Kopf des Kremlherrschers zu fallen – einem Ort, der hier als wahnhaft und dort als entrückt beschrieben wird, und sich bislang allen Versuchen der Krisendiplomatie zu verweigern scheint.
Hingegen sicher sein dürfte, was Putin nicht will: Um sein persönliches Überleben fürchten und glauben, dass er wie die Diktatoren Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi enden könnte. Ob das mit Blick auf die weiteren Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau, die am Montag oder Dienstag beginnen könnten, von Vor- oder Nachteil sein wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls schreckt Putin offenkundig vor keiner Eskalation zurück, um seine Ziele noch zu erreichen.
Bidens Satz sei zwar "menschlich verständlich" gewesen, sagte die US-Expertin und Politologin Cathlyn Clüver Ashbrook im ZDF. "Ich glaube, dass es vielen europäischen Staatschefs ähnlich geht, wie dem Präsidenten." Dennoch sei die Aussage diplomatisch unklug gewesen. Den russischen Kremlchef aus dem Amt zu heben, sei "in keiner Weise" das explizite Ziel der USA. "Das Ziel dieser Reise und dieses Präsidenten ist es in diesem Moment, die westliche Einigkeit zu beschwören, das westliche Bündnis zusammenzuhalten." Das sei Biden insgesamt geglückt, so die Expertin.
In der Tat wäre es wohl falsch, das Augenmerk nur auf die markigen Schlussworte von Bidens rund 27-minütiger Rede zu legen. Der US-Präsident beschwor in Warschau die Werte der Demokratie, signalisierte, dass die USA und Europa auch bei der großen Energiefrage zusammenstehen würden, warb um die Unterstützung der Weltöffentlichkeit für die Ukraine, streckte der russischen Bevölkerung die Hand aus: "Sie, das russische Volk, sind nicht unsere Feinde."

Aber hängen bleibt vor allem dieser Satz: "Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben." Vielleicht reiht er sich in der Geschichte des ideologischen Konflikts zwischen dem Westen und Russland irgendwann hinter John F. Kennedys "Ich bin ein Berliner" (1963) und Ronald Reagans Aufforderung "Reißen Sie diese Mauer nieder" (1987) ein.
Der Satz wurde auf jeden Fall gehört und hallt nach. Am Montag äußerte sich Putins Sprecher erneut dazu. "Das ist eine Äußerung, die natürlich Beunruhigung auslöst", so Peskow. "Wir verfolgen die Äußerungen des US-Präsidenten auf aufmerksamste Art und Weise. Wir halten sie akribisch fest und werden das auch weiter tun."
Die Worte eines US-Präsidenten haben nun mal Gewicht.