Wenige Stunden nachdem am frühen Dienstagmorgen die ersten Meldungen über die Zerstörung des Kachowka-Staudamms auftauchten, überschlugen sich die Propagandisten des Kremls, der russischen Öffentlichkeit einen Schuldigen zu präsentieren. "Die Ukrainer haben einen Terror-Akt veranstaltet und den massiven Bau unglaublichen Ausmaßes zerstört", verkündete beispielsweise Olga Skabejewa in ihrer Sendung "60 Minuten" um 12 Uhr Ortszeit auf einem der wichtigsten Sender des Landes Rossija 1.
"Aus der Region Cherson erreichen uns maximal alarmierende Nachrichten", berichtete sie. "Wahnsinnige Bilder. Der Wasserpegel ist bereits um zehn Meter gestiegen. Die Stadt Nowa Kachowka ist praktisch überflutet."
"Was die Ukraine da gemacht hat, kommt in der Auswirkung der Anwendung einer taktischen Nuklearwaffe gleich", kommentierte ihr Studio-Gast Igor Korotschenko die Situation.
Einen Tag später begann der Ehemann und Co-Moderator von Skabejewa, Jewgenij Popow, zwar die Sendung mit Bildern aus den überfluteten russisch besetzten Gebieten, erzählte aber anschließend lieber über angebliche innenpolitische Probleme der USA und die Rekrutierungsschwierigkeiten der deutschen Bundeswehr. Einer seiner Gäste philosophierte wenig später über den angeblichen Drogenkonsum in den US-Streitkräften und dem US-Establishment – und zwar so, als ob er selbst unzählige Male zum Zeugen dieses angeblichen Drogenkonsums geworden war. Von den Auswirkungen, die noch am Tag zuvor so dramatisch mit der Anwendung einer Nuklearwaffe verglichen worden sind, war so gut wie nichts zu sehen.
Kachowka-Katastrophe wird zum "Hochwasser"
Drei Tage nachdem die Katastrophe von Kachowka ihren Lauf genommen hat, ist das Thema in den Nachrichten des russischen Staatsfernsehens in den Hintergrund gerückt. In der Tagesausgabe der Nachrichtensendung "Westi" auf dem Sender Rossija 1 am 8. Juni galt der erste Beitrag den russischen Truppen, die Angriffe der ukrainischen Streitkräfte angeblich "erfolgreich abwehren" würden. Die Überschwemmung der Region Cherson wurde im späteren Verlauf des Programms als "ein Hochwasser nach dem ukrainischen Beschuss des Kachowka-Staudamms" bezeichnet.
In der Abendausgabe von "Westi" wiederholte sich die Geschichte: Zunächst wurde die Zerstörung des Staudamms als eine "barbarische Aktion" seitens der Ukraine betitelt. Anschließend verkündeten die Korrespondenten der Sendung, dass es in der Region Cherson zu einer "Überschwemmung" gekommen sei. Auch die Nachrichtensendungen des Senders NTW benutzen das gleiche Wort.
Internationales Forum der Bildungsminister wird zur wichtigsten Nachricht
In einer der Nachrichtensendungen auf dem wichtigsten Sender Russlands Perwyj Kanal (Erster Kanal) rückte das Thema sogar im Sendeplan auf den vierten Platz. Dem Beitrag über die Katastrophe in der Region Cherson gingen vorweg: eine Geschichte über ein "internationales Forum der Bildungsminister", eine Meldung über angeblich an der Front zerstörte westliche Waffen und ein Report über die Inhaftierung eines vermeintlichen "Kiewer Agenten" in Donezk.
Dabei konzentrierte man sich beim Sender Pervyj Kanal nicht auf die Ursachen der Katastrophe von Kachowka. Das Wasserkraftwerk bezeichnete man als "angegriffen". Wie und wer es angegriffen haben soll, enthielt man den Zuschauern vor.
Alle staatlichen Kanäle sowie propagandistische Online-Medien rücken nun viel mehr die angeblich erfolgreich laufende Evakuierung der Bewohner des okkupierten Gebiets in den Vordergrund. Tatsächlich reagierten die russischen Behörden viel zu spät. Erst zum Abend des 6. Juni hieß es seitens der von Moskau eingesetzten Regierung, ein Plan zur Evakuierung von Bewohnern aus dem überfluteten Gebiet sei "ausgearbeitet" worden und das Ministerium für Notsituationen sei bereit, Menschen "falls erforderlich" zu evakuieren.
Bei Evakuierung versagt
In den vergangenen Tagen berichteten jedoch die Einwohner, dass keine Hilfe in Sicht ist. Im Gegenteil: Die russische Armee soll diejenigen, die keinen russischen Pass haben, daran hindern, die überfluteten Dörfer und Städte zu verlassen. Das erzählten zum Beispiel mehrere Betroffene dem unabhängigen russischen Medium "Meduza".
Die russischen Rettungskräfte seien erst 60 Stunden nach dem Beginn der Flut in Aktion getreten, erzählte ein Vertreter einer Freiwilligen-Organisation dem unabhängigen TV-Sender Dozhd. Während freiwillige Helfer versuchen würden, Menschen zu retten, würden sie von russischen Soldaten beschossen werden. Entgegen den offiziellen Behauptungen würden die Behörden keine Statistik darüber führen, wie viele Menschen vermisst werden oder tot sind. In den Wassermassen seien unzählige Leichen zu sehen.
Neues Narrativ der Kreml-Propaganda: "Russland rettet und hilft"
Die Zuschauer und Leser kremltreuer Medien bekommen jedoch ein anderes Bild zu sehen. Ein Mitarbeiter einer staatlichen Publikation verriet in einem Gespräch mit "Meduza": Den Menschen werde erzählt, dass "Russland rettet und hilft" und "die Ukraine auf diejenigen schießt, denen Russland hilft".
Eine Quelle, die der Präsidialverwaltung nahesteht (hier werden die sogenannten Handbücher für die Propaganda-Medien verfasst), erklärte die Taktik dahinter: Derzeit sei es "nicht ratsam, sich auf die Ursachen [der Katastrophe] zu fokussieren", sagte die anonyme Quelle.
"Im Wesentlichen eine Naturkatastrophe"
"Der Präsident spricht offiziell von der Ukraine. Schoigu sagt, dass die Ukraine es getan hat. Dmitri Peskow macht dieselbe Aussagen. Das genügt. Es ist besser, sich auf das Positive zu konzentrieren, auch um die Menschen nicht unnötig zu verängstigen". Dies sei das Standard-Vorgehen, versichert er und nannte die Zerstörung des Wasserkraftwerks "im Wesentlichen eine Naturkatastrophe."
Der Gesprächspartner von "Meduza" fügte hinzu, dass die Katastrophe zwar ein "wichtiges Ereignis" sei, aber sich "nicht vom allgemeinen Hintergrund des Kriegsgeschehens abhebt".
"Bisher geht die Zahl der Todesopfer nicht in Dutzende", behauptete die Quelle zur Entschuldigung der Propaganda-Taktik. Eine Aussage, die mehr über das Verhältnis der russischen Regierung zu der eigenen Bevölkerung verrät als über die tatsächlichen Opferzahlen. Freiwillige Helfer gehen bereits von Hunderten Toten aus.
Zerstörung am Dnipro: "Die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten"

Keine Weisungen aus dem Kreml
Die neuerliche Zurückhaltung der russischen Staatsmedien könnte auch schlichtweg damit zu tun haben, dass sie keine Weisungen aus dem Kreml erhalten haben. Dies erzählten zumindest zwei Quellen in großen regierungsnahen Publikationen den Journalisten von "Meduza". Demnach habe es keine klaren Empfehlungen zur Berichterstattung über die Katastrophe von Kachowka gegeben. Normalerweise werden solche "Handbücher" fast unmittelbar nach großen Ereignissen erteilt. Dieses Mal sei es aber anders gewesen.
Den Angaben der beiden Quellen zufolge wurde den Propagandisten nicht einmal mitgeteilt, was genau als Grund für die Zerstörung des Staudamms genannt werden sollte. Und so hätten sich die meisten Kreml-Medien dafür entschieden, auf die Bremse zu treten. "Man muss nicht in die Pedale treten, aber man muss es auch nicht vertuschen", beschrieb einer der Gesprächspartner die aktuelle Vorgehensweise der Propaganda.