Europa hat große Pläne für den Maghreb. Unter anderem soll die Region zur sauberen Stromquelle direkt auf der anderen Seite des Mittelmeers werden - und so auch selbst zu Wohlstand kommen. Doch bisher steckt der Ausbau von Solaranlagen und Windparks noch in den Kinderschuhen - ebenso wie die gesamte wirtschaftliche Entwicklung Nordafrikas.
Seit 1995 ist die Einkommenskluft zwischen Westeuropa und dem Maghreb sogar noch gewachsen. Die Arbeitslosigkeit in den drei Ländern ist knapp zweistellig - und bietet den Nährboden für Unruhen. Schuld an der Misere ist in allen drei Fällen eine fehlgeleitete Wirtschaftspolitik.
Daneben beobachten Ägypten und Libyen "die Ereignisse in Tunesien" mit Argwohn. Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi sieht das Nachbarland nach dem Umsturz von "Banden regiert". Bei den arabischen Potentaten geht die Angst um, die tunesische Revolte könnte auf ihre Länder überspringen.
Tunesien - Absturz des Musterlandes
Lange galt das Land als Musterland unter den Entwicklungsländern der Region. Tunesien setzte auf Handel und Tourismus. Exporte stiegen, Investitionen flossen. Aber: "Am meisten profitierte die Clique um Präsident Ben Ali", sagte Lahcen Achy, Wissenschaftler am Carnegie Middle East Center in Beirut in einem Interview.
Da das Land keine nennenswerten Ressourcen besitzt, investierte es massiv in Bildung, ohne allerdings seine Industrie- und Handelspolitik danach auszurichten. "Das tunesische Wachstumsmodell leidet an einer exzessiven Spezialisierung und Abhängigkeit", so Achy. Tunesien ist abhängig von einem Exportmarkt und einem Produkt: 72 Prozent der Ausfuhren gehen in die EU, mehr als drei Viertel davon Textilien. Doch die tunesischen Hersteller konkurrieren nicht nur mit Billigprodukten aus China.
Akademiker finden in der Textilbranche auch kaum Jobs. Nach jüngsten Zahlen der Weltbank von 2009 sind 46 Prozent der Hochschulabsolventen ein Jahr nach ihrem Uniabschluss noch arbeitslos - ein riesiges Frustpotenzial. Auch die Tourismusbranche kann dies nicht auffangen. Sie beschäftigt zwar 370.000 Menschen, hauptsächlich aber Geringqualifizierte.
Dass die Frustration das Regime so schnell hinweggefegt hat, überraschte auch den Westen. Ben Ali unterhielt gute Beziehungen zur EU. Trotzdem löst der Umsturz keine größeren Befürchtungen aus, dazu ist das Land ökonomisch zu unbedeutend. Außerdem spielen Islamisten keine große Rolle.
Gefunden in ...
... der Onlineausgabe der "Financial Times Deutschland"
Algerien - gelenkte Wirtschaft
Im "zweitgrößten Flächenstaat Afrikas" lenkt der Staat die Wirtschaft. Doch er lässt sie erstarren in Abhängigkeit von Öl- und Gasexporten (97 Prozent der Exporterlöse) und steigenden Importen. "Eigentlich ist Algerien reich - es gibt Einnahmen aus der Ölindustrie, die allerdings ungleich verteilt werden", sagt Karim Emile Bitar, Maghreb-Forscher am französischen Institut für Strategische und Internationale Beziehungen.
Das Land zahle heute den Preis für 20 Jahre verfehlte Wirtschaftspolitik, sagen Kritiker. Algerien sitzt dank der Kooperation mit internationalen Energiekonzernen auf einem Berg von Währungsreserven, doch dem heimischen Gewerbe fehlen Investitionen. Beharrlich fordert der Internationale Währungsfonds, der Staat müsse sich aus Industrie und Finanzwelt zurückziehen, um ein besseres Geschäftsklima schaffen. Stattdessen macht Präsident Abdelaziz Bouteflika das Gegenteil. Ein Dutzend staatlicher Vorzeigeunternehmen werden mit Staatsmilliarden saniert.
Begleitet wird dieser Kurs von einer Abschirmung gegenüber Importen und Direktinvestitionen aus dem Ausland (FDI) - mit strikten Grenzen der Kapitalbeteiligung. Die FDI gingen 2009 und 2010 zurück. Jobs für das auch hier große Heer der Arbeitslosen - 20 Prozent unter Jugendlichen - entstehen bestenfalls bei privaten Dienstleistern.
Das Land könnte in den tunesischen Strudel geraten. Am Sonntag versuchte sich ein Arbeitsloser selbst zu verbrennen. So begann auch in Tunesien die Revolte. Mit Preissenkungen will die Regierung den Zorn der Bevölkerung eindämmen.
Marokko - königliche Korruption
Ungleich verteilter Wohlstand und hohe Jugendarbeitslosigkeit plagen auch Marokko. Das Königreich fängt die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Europa, von dem es wie andere Maghreb-Länder stark abhängt, mit Investitionen einigermaßen auf. Obwohl auch Geld in neue Branchen wie Textil, Elektrokomponenten, Offshore-Dienstleistungen und Tourismus fließt, bleiben die Landwirtschaft und die Phosphatindustrie die wichtigsten Arbeitgeber im Land.
Auch in Marokko scheint die mit mehr als 40 Prozent des Staatshaushaltes großzügig finanzierte Bildungspolitik am Arbeitsmarkt vorbeizuzielen: Arbeitslosigkeit trifft Hochqualifizierte weit stärker als Arbeitskräfte mit geringem oder mittlerem Bildungsabschluss.
Korruption ist in dem Land weit verbreitet. Aus Dokumenten von US-Diplomaten, die von der Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlicht wurden, geht hervor, dass auch König Mohammed VI. seine Finger im Spiel hat. Über größere Investitionsvorhaben entschieden der König und einige Vertraute im Alleingang. Nach Einschätzung der US-Diplomaten hat die Korruption unter dem Monarchen einen "institutionellen Charakter" angenommen.
Libyen - Politik mit Ölmilliarden
Das Reich von "Muammar al-Gaddafi" ist abhängig vom Ölsektor des Landes. 95 Prozent der Exporterlöse stammen aus dem Geschäft mit dem schwarzen Gold. Auch der Staatshaushalt speist sich zu 80 Prozent aus den Öleinnahmen. Wegen des Rohstoffs gehört Libyen zu den reichsten Ländern Nordafrikas. Das Wirtschaftswachstum wird 2010 auf 3,3 Prozent geschätzt.
Doch breite Bevölkerungsschichten haben nichts von dem Wohlstand. Die Arbeitslosigkeit wird auf 30 Prozent geschätzt. Allerdings stammt diese Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation aus dem Jahr 2006.
Libyen hat in den letzten Jahren einen vorsichtigen Liberalisierungskurs eingeschlagen, um ausländische Investoren in den Wüstenstaat zu locken. Vor allem italienische Unternehmen wittern das große Geschäft. Der Geldstrom funktioniert aber auch in die andere Richtung: Über seine Zentralbank und einen Staatsfonds ist Libyen mit 6,7 Prozent der größte Eigner der Großbank Unicredit.
Ägypten - soziales Pulverfass
Die Wirtschaft des Landes hat seit 2004 eine Reihe von Reformen absolviert. Das Investitionsklima hat sich verbessert, doch große Probleme bleiben. Der Internationale Währungsfonds erwartet für 2011 eine Inflationsrate von 9,5 Prozent. Afrika-Experte Achy sieht darin eine schwere Bürde für die ägyptische Volkswirtschaft. Auch Korruption behindert die Wirtschaftsentwicklung.
Hinzu kommt, dass im bevölkerungsreichsten nordafrikanischen Land die Jugendarbeitslosigkeit ein großes Problem darstellt. 50 Prozent der männlichen und 90 Prozent der weiblichen Schulabgänger finden in den ersten zwei Jahren nach dem Ende ihrer Ausbildung keinen Job. Mehr als 21 Prozent der Ägypter leben laut Achy unter den nationalen Armutsgrenze.
Der 82-jährige Hosni Mubarak herrscht seit 29 Jahren autokratisch über das Land am Nil. Die Frustration vieler junger Menschen über ihre Situation dürfte ähnlich groß sein wie die ihrer Altersgenossen in Tunesien. Regimekritiker hoffen daher, dass der Funke überspringt.
Ein Aufstand in Ägypten dürfte den Westen weitaus mehr beunruhigen, denn mit der islamistischen Muslimbruderschaft steht hier eine organisierte Oppositionskraft im Wartestand.