Stern-Chefredakteur Antisemitismus auf deutschen Straßen: Wir dürfen den Hass nicht tolerieren

Das aktuelle stern-Cover: Krieg ohne Grenzen  Nach den Attacken der Hamas wehrt sich Israel mit aller Härte gegen den Terror. Wie der Konflikt nun auch bei uns eskaliert.
Das aktuelle stern-Cover: Krieg ohne Grenzen
Nach den Attacken der Hamas wehrt sich Israel mit aller Härte gegen den Terror. Wie der Konflikt nun auch bei uns eskaliert.
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Die Lage in Nahost ist erneut das bestimmende Thema im aktuellen stern-Magazin. Chefredakteur Gregor Peter Schmitz beschäftigt auch der Antisemitismus auf Deutschlands Straßen.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 waren nicht nur ein Angriff auf New York und Washington, sie waren ein Albtraum für ein ganzes Land. Ich habe die Jahre nach den Anschlägen in den USA gelebt, und es verging kein Tag, an dem dieses Trauma nicht spürbar war. Die Attacken der Hamas gegen Israel sind in vielem nicht vergleichbar, aber doch in einem: Sie sind ein nationaler Albtraum. Amerika war und ist das mächtigste Land der Welt, etwa 332 Millionen Einwohner; es hat überall Verbündete. Israel ist winzig, etwa so groß wie Hessen, rund zehn Millionen Einwohner, und in seiner Nachbarschaft haben Länder die Vernichtung Israels zum Staatsziel erklärt. Gemessen an seiner Einwohnerzahl, hat Israel gerade zehnmal "9/11" erlebt.

Amerika ist damals in die Falle der Terroristen getappt, es verlor seinen inneren Kompass. Die Supermacht griff erst Afghanistan, dann den Irak an, obwohl der Sinn dubios blieb, seine Mächtigen ließen Folter-Fantasien freien Lauf und empfanden den Rechtsstaat bald als lästige Einengung. Über die Feinde wurde gelegentlich gesprochen, als seien sie Tiere.

Es ist wichtig, daran zu erinnern, damit Israel nicht einen ähnlichen Fehler begeht. Israels Freunde – auch wir Deutsche, im besonderen Bewusstsein für unsere Vergangenheit – sollten zu Mäßigung raten, wenn israelische Offizielle geloben, so gut wie jedes einzelne Hamas-Mitglied zu töten, was unumgänglich den Tod vieler unschuldiger Zivilisten einschließen wird. Wir dürfen darauf hinweisen, dass die Hamas Israel auch eine Falle gestellt hat. Die Terroristen wollen, dass Israel sich durch kopflos-harsche Vergeltung moralisch isoliert.

Was wir aber nicht dürfen: Aggressor und Opfer durcheinanderbringen. Israel wurde angegriffen, in einer barbarischen Weise. Die Angriffe, beschlossen von der Hamas-Regierung in Gaza, sind nicht einfach eine weitere Facette im endlosen Nahostkonflikt; sie sind, um das aktuellste deutsche Wort zu bemühen, eine Zeitenwende. Deswegen hat Israel jedes Recht, sich zu verteidigen, natürlich in den Grenzen des humanitären Völkerrechts, das der Hamas übrigens, anders als Israel, stets völlig egal ist. Israel muss also sagen: Ja, wir sind besser als sie. Aber es braucht nicht zu sagen: Wir lassen uns alles gefallen.

Eine moralisch unsaubere Gleichung

Wer nun drohendes oder reales palästinensisches Leid beklagt, ohne ein Wort des Bedauerns für israelisches Leid zu äußern, macht eine moralisch unsaubere Gleichung auf. Wenn Israels Opfer beschwiegen oder aufgerechnet werden, handelt es sich um kaum getarnten Antisemitismus. Mit dem kennen wir Deutschen uns leider aus wie niemand sonst. Gerade deswegen müssen wir uns wehren, wenn er auf unseren Straßen Feste feiert.

Der stern begeht dieses Jahr seinen 75. Geburtstag. Das feiern wir in der Redaktion, in einem Sonderheft – und im TV. Am 19. Oktober 2023 lädt Steffen Hallaschka Sie zu einer besonderen Ausgabe von stern TV auf RTL ein. Darin wird es darum gehen, wie der stern Geschichte geschrieben hat und welche Geschichten er weiterhin schreiben will. Dabei sein werden Prominente wie Alice Schwarzer, Katarina Witt, Günther Jauch und Micky Beisenherz. Schalten Sie am Donnerstag um 22.30 Uhr gern ein, wir freuen uns auf Sie.

Erschienen in stern 43/23