Vilnius Ukraine-Beitritt, Schweden-Streit, Streumunition: Das sind die wichtigsten Themen beim Nato-Gipfel

Nato-Gipfel: Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, gibt Ulf Kristersson, Ministerpräsident von Schweden, die Hand
Auf den Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg (Mitte) dürften beim Gipfel komplizierte Beratungen zukommen – trotzdem geben sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (links) und Ulf Kristersson (rechts), Ministerpräsident von Schweden, die Hand
© Yves Herman / Pool Reuters / AP / DPA
Kommt er oder kommt er nicht? Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj will endlich Klarheit über die Nato-Perspektive seines Landes und macht davon sein Erscheinen beim Gipfel in Vilnius abhängig. Die russische Invasion bleibt das bestimmende Thema.

Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto robuster entwickelt sich die Nato. Wladimir Putins Plan, das Verteidigungsbündnis so weit wie möglich von den Grenzen Russland fernzuhalten, hat das Gegenteil erreicht. Seine "brutale Invasion hat genau zu dem geführt, was er angab, am meisten zu fürchten: eine vertiefte Zusammenarbeit des Westens bei der Verteidigung europäischer Gebiete und Werte", schreibt das "Wall Street Journal" angesichts des beginnenden Nato-Gipfels im litauischen Vilnius.

Zwei Tage beraten die Mitglieder-Staats- und Regierungschefs nun darüber, wie tief die Vertiefung des Bündnisses gehen soll. Im Wesentlichen stehen drei große Themen auf dem Stundenplan:

  • Die Nato-Zukunft der Ukraine
  • Der immer noch nicht vollzogene Nato-Beitritt Schwedens (und die Rolle, die die Türkei dabei spielt)
  • Die Lieferung von weitgehend geächteten Streubomben an die Ukraine

Selenskyj kommt nur bei Ukraine-Nato-Beschluss

Einer der größeren Wünsche von Wolodymyr Selenskyj wird wohl weiter nicht erfüllt werden: der Beitritt seines Landes zur Nato. Obwohl das Land mittlerweile eine stattliche Liste von Fürsprechern vorweisen kann, sei der "Zeitpunkt für eine Einladung nicht da", wie es in deutschen Regierungskreisen heißt.

Der ukrainische Präsident hatte zuletzt seine Teilnahme am Gipfel davon abhängig gemacht, dass die Entscheidung über die Beitrittsperspektive der Ukraine erst dort fällt. "Wir möchten, dass alle Entscheidungen während des Gipfels getroffen werden. In diesem Fall ist es klar, dass ich dort sein werde", sagte er in einem veröffentlichten Interview des US-Senders ABC. "Ich will nicht zum Spaß nach Vilnius fahren, wenn die Entscheidung schon vorher gefallen ist."

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Litauen: Hohe Erwartungen an Nato-Gipfel

Einem schnellen Beitritt steht vor allem der berühmte Beistandsartikel entgegen. Der besagt, dass ein Angriff auf ein Mitgliedsland ein Angriff auf alle Mitgliedsländer ist. Anders gesagt: Sollte die Ukraine jetzt der Nato beitreten, würde sich das Bündnis unmittelbar im Krieg mit Russland befinden. Das jedoch wollen die Staaten verhindern. Sollte die Ukraine der Nato beitreten und das Militärbündnis ihr nicht beistehen, wäre wiederum die Glaubwürdigkeit der Beistandsverpflichtung dahin.

Um dieses Dilemma zu verhindern, könnte der Gipfel mit einer Erklärung enden, dass der Ukraine eine Nato-Mitgliedschaft nach Kriegsende in Aussicht gestellt wird.  Bis dahin dürften viele westliche Staaten verlässlicher Waffen liefern. Vor einer Nato-Aufnahme würde die USA eine Sicherheitspartnerschaft übernehmen, ähnlich wie sie sie mit Israel pflegt. Lesen Sie hier mehr über den entsprechenden Vorschlag von US-Präsident Joe Biden.

Zudem ist die schnelle Gründung eines regelmäßig tagenden Nato-Ukraine-Rats geplant.

Was wird mit Schwedens Nato-Mitgliedschaft?

Möglicherweise endet auf dem Nato-Gipfel in Litauen auch das Ringen um eine Mitgliedschaft Schwedens. Das Land hatte sich nach Beginn der Ukraine-Invasion zusammen mit Finnland um einen Beitritt beworben, wird jedoch von der Türkei bislang blockiert. Nach Ansicht des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gewähre das skandinavische Land kurdischen "Terroristen" Unterschlupf. Solange sich dies nicht ändere, könne er einem Beitritt nicht zustimmen. Zuletzt hatte Erdogan mit Joe Biden telefoniert und sich mit dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson in Vilinius getroffen.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg halte es für "absolut möglich", eine "positive Entscheidung" der Türkei bei dem Gipfel in Litauen zu erreichen, wie er sagte. Neben dem grünen Licht aus der Türkei fehlt noch das Parlaments-Ja aus Ungarn.

Die Hinhaltetaktik Erdogans ist auch Teil seines Machtspiels. Der türkische Präsident pflegt trotz der Invasion ein gutes Verhältnis sowohl zur Ukraine als auch zu Russland. Noch vor wenige Tagen brachte er seine Unterstützung für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zum Ausdruck und überstellte dem Land ukrainische Soldaten, die nach ihrer Freilassung aus russischer Kriegsgefangenschaft bis auf weiteres hätten in der Türkei bleiben sollen. So sah es zumindest eine Vereinbarung mit der Regierung in Moskau vor, die sich nun brüskiert fühlt.

Zudem schwelt zwischen der Türkei und den USA ein Streit über die Lieferung von Kampfflugzeugen. Vor rund vier Jahren hatte die Türkei als einziges Nato-Land Waffensysteme von Russland gekauft – hochmoderne S-400-Boden-Luft-Raketen. Die Amerikaner setzten daraufhin die Lieferung von F-35-Maschinen im Wert von rund zwei Milliarden US-Dollar aus. Zuletzt haben die USA noch Modernisierungen für F-16-Flugzeuge verschoben. Mutmaßlich lässt sich Recep Tayyip Erdogan sein Ja zu Schwedens Beitritt mit der Lieferung dieser Kampfjetpakete bezahlen. Zuletzt brachte er allerdings auch Gespräche über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ins Gespräch.

Keine Einigkeit über Streubomben

Kurz vor dem Nato-Gipfel hat Joe Biden angekündigt, die von vielen Staaten geächteten Streumunition an die Ukraine zu liefern –­ den Bedenken vieler Verbündeter zum Trotz. Nato-Generalsekretär Stoltenberg sagte, die Militärallianz habe keine einheitliche Haltung zum Thema Streumunition. Er verwies darauf, dass eine Reihe von Mitgliedsländern den internationalen Vertrag zur Ächtung dieser Munition unterzeichnet haben, andere jedoch nicht. "Streumunition wird im Ukraine-Krieg bereits auf beiden Seiten eingesetzt", so Stoltenberg. Es gebe jedoch einen deutlichen Unterschied: Russland nutze sie in seinem "brutalen Angriffskrieg" zur Invasion, während die Ukraine zur Selbstverteidigung darauf zurückgreife.

Streubomben setzen dutzende bis hunderte kleinere Sprengsätze frei, von denen viele nicht sofort explodieren. Sie können also noch lange nach ihrem Abwurf Menschen töten oder verletzen und sind deswegen eine besondere Gefahr für die Zivilbevölkerung. Ein 2010 in Kraft getretenes internationales Abkommen – das sogenannte Oslo-Übereinkommen – verbietet Herstellung, Lagerung, Einsatz und Weitergabe von Streumunition. Allerdings sind weder die USA noch die Ukraine dem Abkommen beigetreten, ebensowenig wie Russland.

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, versucht, den Partnern die Sorgen vor einem Einsatz von Streumunition zu nehmen. Es gebe einen klaren Plan, sagte Makeiev im ZDF-"Morgenmagazin". "Wir werden die Streumunition erstens nicht auf dem Territorium Russlands benutzen." Sie werde zweitens nicht gegen zivile Einrichtungen eingesetzt. Gebiete, die mit Streumunition beschossen werden, würden anschließend bei der Räumung von Minen priorisiert.

Quellen: DPA, AFP, "Wall Street Journal", "Merkur".