Kanzler in Kiew Ein wichtiger Schritt oder Augenwischerei? So kommentiert die Presse Scholz' Besuch in Kiew

Olaf Scholz besuchte mit Emanuel Macon und Mario Draghi Wolodymyr Selenskyj in Kiew
Olaf Scholz und Wolodymyr Selenskyj schütteln sich bei ihrem ersten Treffen in Kiew die Hände
© Sergei Supinsky / AFP
In Kiew pocht Olaf Scholz darauf, die Ukraine als EU-Beitrittkandidaten zu nominieren. Ansonsten blieb der Kanzler vage wie immer. Vieles der Reise, ist eben doch nur Symbolpolitik, kommentiert die Presse.

Bundeskanzler Olaf Scholz wollte in die Ukraine reisen – nicht für einen flüchtigen Fototermin, sondern um "ganz konkrete Dinge" zu besprechen. Am Ende kamen viele medienwirksame Schnappschüsse heraus: Olaf Scholz, wie er mit seinen Mitreisenden Macron und Draghi Reden schwingt, Olaf Scholz mit betroffenem Gesichtsausdruck in Irpin und Olaf Scholz beim Händeschütteln mit Wolodymyr Selenskyj.

Konkret wurde es schließlich, als sich der Kanzler dafür aussprach, die Ukraine als potentiellen EU-Beitrittskandidaten zu behandeln. Auch um Waffenlieferungen ging es. So richtig ist aber nichts dabei herausgekommen – oder? Einige Journalisten halten die Symbolpolitik des Kanzlers für Augenwischerei. Andere glauben an die Macht der Symbolik und der Bilder. Die Presseschau zu Scholz' Besuch in der Ukraine.

Olaf Scholz gewinnt Vertrauen zurück – obwohl seine Zusagen weiter vage bleiben

"Pforzheimer Zeitung": "An verbaler Solidarität Deutschlands mangelt es nicht, wenngleich man sich bei Scholz nie des Eindrucks erwehren kann, dass die letzte Konsequenz fehlt. Auch in Kiew. Wieder inszeniert sich der Kanzler als großer Unterstützer. Die Realität sieht jedoch zumindest im militärischen Bereich anders aus. Zusagen wurden zu zögerlich gegeben, es wurden Waffensysteme versprochen, die nicht schnell verfügbar waren. Reisen bildet, heißt es. Hoffentlich zieht Scholz die richtigen Schlüsse aus seinen Erlebnissen in der Ukraine."

"Der neue Tag": "Endlich ist Bundeskanzler Olaf Scholz in die Ukraine gereist, 113 Tage nach Kriegsbeginn. Viel zu spät. Im Gepäck hatte er immerhin das Versprechen, dass das geschundene Land möglichst schnell EU–Mitglied werden soll. Das ist auch das Mindeste, was das Volk um Präsident Wolodymyr Selenskyi erwarten kann. Mit warmen Worten allein ist der Ukraine aber nicht geholfen. Jeder Tag des Krieges macht die russischen Aggressoren stärker und das Leid größer. Diplomatie hin, EU–Hoffnungen her: Zunächst muss dem Despoten Wladimir Putin militärisch richtig eingeheizt werden. Alles andere ist Symbolpolitik und Augenwischerei."

"Reutlinger Generalanzeiger": "Vielleicht konnte Scholz verloren gegangenes Vertrauen der ukrainischen Führung in Deutschland und die deutsche Regierung zumindest zum Teil zurückgewinnen. Mehr aber nicht. Denn auch das EU–Bekenntnis der Staatschefs aus Deutschland, Frankreich, Italien und Rumänien ist nur eine vage Zusage. Selbst wenn sie alle sich auf dem EU–Gipfel in der kommenden Woche für den Status eines Beitrittskandidaten einsetzen werden, ist keineswegs gewiss, dass die Ukraine ihn tatsächlich schon erhalten wird."

"Auf Scholz kommt ein schwieriger Sommer zu"

"Allgemeine Zeitung": "Die Ukraine soll zur europäischen Familie gehören. Scholz persönlich dürfte es damit gelungen sein, in der Ukraine nach dem langen Streit um Waffenlieferungen und um den Kiew–Besuch Vertrauen zurückzugewinnen. Allerdings: Mehr als das starke Signal der Solidarität kann das Ganze vorerst nicht sein. Denn wie soll ein Beitrittsverfahren vollzogen werden, wenn wie derzeit ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets von den russischen Aggressoren besetzt ist? Offen bleibt auch, welche Kriterien die EU an Kiew anlegen will – denn eine Musterdemokratie war die Ukraine auch schon vor Beginn des Krieges wahrlich nicht."

"Badische Neueste Nachrichten": "Gemessen am eigenen Anspruch wäre die Reise für Scholz nur ein Erfolg gewesen, wenn konkrete Fortschritte auf der Suche nach einer diplomatischen Lösung erzielt worden wären. Die Benennung eines Vermittlers etwa, der von beiden Kriegsparteien akzeptiert wird. Ein entsprechender Name fiel jedoch nicht."

"Rhein–Zeitung": "Innenpolitisch hat Scholz zumindest kurzfristig den Druck rausgenommen. Nach wie vor gibt es bei ihm aber die Sorge, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen werden könnte. Für seine oft zögerliche Haltung wird er in der Ampelkoalition und von der Opposition in Teilen scharf kritisiert. Umfragen geben ihm jedoch recht, dass große Teile der Bevölkerung seinen Kurs stützen. Bleibt die Frage, wie lange Europa bereit sein wird, wirtschaftliche Einschränkungen in Kauf zu nehmen? Dazu wird der Kanzler sich weiter und besser erklären müssen. Auf Scholz kommt ein schwieriger Sommer zu."

Doch ein wirksamer Fototermin?

"Volksstimme": "Russlands Vorteil im Ukraine–Krieg ist die klare Strategie: Der Aggressor will sich so viel ukrainisches Territorium wie möglich einverleiben. Dafür walzt die Kriegsmaschine des Kreml alles nieder. Der Ukraine und ihren Verbündeten fehlt eine gemeinsame strategische Linie. Während Kiew auf ganzer Linie siegen will, wären die Partner schon froh, wenn Moskau zu einer Waffenruhe gezwungen würde. Mehr Einigung mit Präsident Selenskyj zu zeigen, musste Ziel der Kiew–Visite von Kanzler Scholz und den drei EU–Kollegen sein. Es war ein Test der Führungsqualitäten des als Zauderer verschrienen Bundeskanzlers. Den hat er in einem entscheidenden Punkt bestanden: Nicht nur Deutschland ist für den EU–Beitrittsstatus von Ukraine und Moldawien, Scholz hat Frankreich und Italien mitgezogen. Damit dürfte klar sein, dass sich die EU–Kommission in dieser Richtung positioniert. Der Krieg ist damit nicht gewonnen, aber eine politische Schlacht gegen Russland."

"Stuttgarter Zeitung": "Die Brüsseler Kommission wird diesen Freitag das Kiewer Beitrittsgesuch bewerten, und das Quartett um Scholz hat vor Ort erklärt, dass es dem Kandidatenstatus des Landes positiv gegenübersteht. Diese Zusage ist für die Ukraine bedeutsam. (...) Trotzdem ist sie erst einmal nur symbolischer Natur. Eine wirkliche Aufnahme, die dann auch mit einer militärischen Beistandspflicht verbunden wäre, liegt noch in weiter Ferne. Wer sich vom Besuch von Kanzler & Co. eine fulminante Wende in den komplizierten deutsch–ukrainischen Beziehungen oder gar des Kriegsverlaufs erwartet hat, sieht sich wenig überraschend getäuscht. Atmosphärisch mag es ein wenig Linderung geben, da Kiews Präsident Wolodymyr Selenskyj seiner Bevölkerung nun eine wenn auch vage Zukunftsperspektive bieten kann. An der harten Gegenwart des Landes und den Interessenunterschieden mit seinen europäischen Verbündeten ändert sich vorerst wenig."

"Berliner Zeitung": "Es hat den Anschein, dass die Bilder der Ruinen von Irpin und die Schilderungen der Menschen vor Ort ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Auf den Fernsehbildern sieht man Macron , Scholz und Draghi mit betroffenen Minen durch die Trümmer laufen. Es ist eben doch noch mal etwas anderes, das Grauen mit eigenen Augen zu sehen – selbst wenn das Schlimmste schon weggeräumt ist. Scholz wirkte auf der Pressekonferenz mit Selenskyj und seinen Amtskollegen für seine Verhältnisse geradezu empathisch. Im Bundeskanzleramt in Berlin ist man vom Krieg eben weit weg. Insofern war die Reise in die Ukraine vermutlich doch ein voller Erfolg – für das Kriegsland und für die eigenen Anschauungen des Bundeskanzlers."

"Die symbolische Bedeutung ist groß"

"Hannoversche Allgemeine Zeitung": "Der Besuch der drei westeuropäischen Staats– und Regierungschefs gemeinsam mit ihrem rumänischen Kollegen ist ein wichtiger Beweis der Solidarität mit der Ukraine und eine notwendige Provokation gegenüber Putin. Mit dem russischen Machthaber stehen die Staatenlenker von Deutschland, Frankreich und Italien in telefonischem Kontakt. Es war höchste Zeit, endlich auch mit Bildern zu demonstrieren, dass die großen Länder in der EU an der Seite der Ukraine stehen. Ein Fototermin in der durch den Angriffskrieg geschundenen Ukraine hat nun einmal einen anderen Wert als anderswo auf der Welt."

"Südwest Presse": "Olaf Scholz wollte, wenn er schon nach Kiew reist, dort nicht nur Symbolpolitik betreiben. Er wollte mehr. Etwas Konkretes. Nichts Anderes erwarteten die Ukrainer. Vor allem wollen sie Waffen, Waffen, Waffen. Fakt ist, so viel Kriegsgerät, wie Kiew will, wird es nicht geben. Denn Scholz, Draghi und Macron möchten, dass in Moskau auch künftig abgenommen wird, wenn sie dort anrufen. Dafür gibt es nun die engere Bindung an die EU. Den Kandidatenstatus wird die Ukraine bekommen. Von dort kann es ein weiter Weg zur Mitgliedschaft sein. Die symbolische Bedeutung aber ist groß."

"Nordkurier": "Auch wenn es in den vergangenen Monaten in der Berliner politischen und medialen Blase heftig rumorte – Scholz‘ Ukraine–Politik findet bei den Wählern viel Zustimmung. Denn wer halbwegs bei Verstand ist, kann sich die Risiken jedes Eingreifens von außen für ganz Europa ausrechnen. Deutschlands Hilfe ist besser als ihr Ruf bei der Haudrauf–Fraktion im eigenen Haus: Nicht allein Waffenlieferungen können der Maßstab sein, gerade zivile Unterstützung ist jetzt und künftig gefragt. Es war die richtige Strategie, dass Scholz nicht allein gefahren ist. Früher gab es immer Kritik an deutschen Alleingängen, die der Kanzler jetzt penibel vermeidet. Das ist auch das wichtigste Signal an Russland: Dass die Ukraine nicht alleine steht."

"Leipziger Volkszeitung": "Nach ihrer langen Phase der Zurückhaltung sind Scholz, Macron und Draghi am Ende mit offenem Visier nach Kiew gereist. So war die Reise auch ein Signal an Putin: Wir haben keine Angst vor dir und besuchen unsere Freunde in der Ukraine auch im Krieg."

DPA
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