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Syrische Stadt Raqqa "Die Welt interessiert sich nicht für uns. So ist es doch"

Alltag in Raqqa: Zwei Schülerinnen eilen an den Ruinen ihrer Stadt vorüber
Alltag in Raqqa: Zwei Schülerinnen eilen an den Ruinen ihrer Stadt vorbei. Bis heute liegen viele Tote unter dem Schutt, es wird noch Monate dauern, bis alle geborgen sind
© Hussein Malla / Picture Alliance
Nach dem Sieg über den IS liegt das syrische Raqqa in Trümmern. Ahmad Abdullah verlor durch einen Luftangriff seine ganze Familie. Der Westen hat ihn befreit – und ihm alles genommen. Welchen Preis darf Freiheit haben?
Von Raphael Geiger

Vor etwas mehr als einem Jahr, am Mittwoch, dem 16. August 2017, schlug eine Fliegerbombe in einem Wohnviertel von Raqqa ein, abgeworfen aller Wahrscheinlichkeit nach von der US-Luftwaffe. Die Bombe traf ein Haus, in dem die Amerikaner IS-Kämpfer vermuteten. Eine Rauchsäule stieg auf. Dann wurde es still.

Wo sind wir hier, Herr Abdullah?

Das hier ist das Erdgeschoss, hier wohnten wir, darüber befanden sich zwei Stockwerke. Ein eingefallener Mann sitzt auf einem Plastikstuhl in dem, was sein Wohnzimmer war, ein Schrank steht an der Wand, aber die Wand hält keine Decke mehr, der Mann sitzt im Freien. Die Treppe, die in den ersten Stock führte, endet in der Luft. Ahmad Abdullah ist 56 Jahre alt, er sieht älter aus.

Haben Sie sich geändert, seit die Bombe einschlug?

Ich habe angefangen zu rauchen. Als ich Raqqa im Krieg verlassen habe, haben mir die ersten kurdischen Soldaten, die ich traf, Zigaretten angeboten. Die Kurden haben mir das Rauchen beigebracht! Er lächelt kurz. Das Rauchen entspannt mich.

Was für eine Marke mögen Sie?

Sie heißt Master. Aus der Schweiz, glaube ich. Wollen Sie eine? Es ist eine Schande, dass ich Sie hier als Gäste habe und Ihnen nichts anbieten kann.

Den 16. August verbrachten die Abdullahs in ihrem Haus im Viertel Rashidiyeh. Sie trauten sich seit Wochen kaum noch auf die Straße, Raqqa war eingeschlossen, die letzten IS-Kämpfer lieferten sich Häuserkämpfe mit den SDF, den Demokratischen Kräften Syriens. Aus der Luft bombardierte die amerikanische Luftwaffe mit Jets und Drohnen.

Die Drohnen hätten eine Zigarettenpackung hier auf dem Tisch gesehen, die sahen alles. Wir hatten gehört, dass die Drohnen manchmal Zivilisten auf der Straße töteten, die die Amerikaner für Daeshis hielten.

Daesh: die arabische Abkürzung für den IS. Abdullah will die Gruppe nicht "Islamischer Staat" nennen. Daesh klingt passender, findet er. Verächtlich.

Nur ich ging manchmal noch raus, Brot holen. Sie schickten Lastwagen in die einzelnen Viertel, von denen bekam man Brot.

Ahmad Abdullah hängt im Hof seines zerstörten Hauses Wäsche auf
Ahmad Abdullah hängt im Hof seines zerstörten Hauses Wäsche auf. Er möchte nicht erkannt werden – weil er gelernt hat, dass es besser ist, nicht zu sichtbar zu sein
© Nicole Tung / stern

Ihre Familie verließ das Haus nicht mehr?

Nein, ich hatte es ihnen verboten.

Waren noch viele Familien im Viertel geblieben?

Viele waren schon weg. Manche raus aus Raqqa, andere sind ins Stadtzentrum gezogen. Wir wollten nicht fort von unserem Haus. Wir dachten, es ist nur ein Sturm. Ein, zwei Stunden Kämpfe, dann wäre es vorbei.

Hatten Sie Angst vor den Luftangriffen, oder haben Sie den Amerikanern vertraut, dass sie auf Zivilisten achtgeben?

Am Anfang hatten wir keine Angst. Die Einschläge waren präzise. Später waren sie einfach überall.

Und Ihre Kinder?

Die hatten manchmal Angst. Aber manchmal auch nicht, sie hatten sich daran gewöhnt.

Abdullah und die anderen Menschen in Raqqa brauchen Hilfe für den Aufbau. Bitte spenden Sie an: IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 00 BIC DEUTDEHH – Stichwort "Raqqa"; www.stiftungstern.de

Die Uno schätzt, dass 70 bis 80 Prozent von Raqqa zerstört sind – nicht vom IS, sondern von den Befreiern, vor allem durch Luftangriffe. US-Präsident Donald Trump hatte nach seinem Amtsantritt die Einsatzregeln gelockert, es durfte nun schneller bombardiert werden, mögliche zivile Opfer waren kein Hindernis mehr.

Noch heute, ein Jahr später, liegt ein Geruch von Verwesung über Raqqa, viele Leichen hat man noch immer nicht geborgen. Mindestens tausend Zivilisten seien durch alliierte Luftangriffe gestorben, heißt es, und das sind nur die dokumentierten Fälle. Allein damit hätten die Befreier mehr als dreimal so viele Tote zu verantworten wie der IS während der Monate der Bombardierung.

Fühlen Sie sich befreit, Herr Abdullah?

Ich sage nicht Befreiung. Ich nenne es Zerstörung. Schauen Sie sich doch um, was aus unserer Stadt geworden ist. Haben die nicht gewusst, dass hier Zivilisten leben? Die müssen es gewusst haben!

Wie haben Sie vorher über den Westen gedacht, über Amerika?

Ich habe einfach gehofft, dass sie kommen und uns erlösen.

Abdullahs Familie, das waren: seine Frau Sumaya, 43. Sein Sohn Abud, 18. Dann zwei Töchter: Heyfa, 16, und Mona, 14. Noch ein Sohn: Omran, 12. Und noch zwei Töchter: Henna, 9, und Duha, 7.

Abdullah konnte nur wenige persönliche Dinge retten – darunter Fotos seiner Kinder
Abdullah konnte nur wenige persönliche Dinge retten – darunter Fotos seiner Kinder
© Nicole Tung / stern

Was taten Sie in den Stunden, bevor es geschah?

Meine Frau war mit den Kindern zusammen, sie spielten Karten. Es war Nachmittag. Ein sehr heißer Tag, das weiß ich noch.

Gab es genug Wasser?

Wasser musste ich vom Brunnen holen, es gab genug, aber wegen der Luftangriffe war der Weg zum Brunnen jedes Mal gefährlich.

Hatten Sie zu essen?

Es gab noch etwas Bulgur im Haus, Getreidekörner, Muskraut.

Wann sind Sie an dem Abend aus dem Haus gegangen, Herr Abdullah?

So um halb acht. Ich habe meiner Frau noch zugerufen, dass ich bald zurückkomme. Dass ich mich beeile.

Wie weit war es zu dem Lastwagen mit dem Brot?

Nicht weit, einen Kilometer vielleicht, zehn Minuten zu Fuß. Ich war gerade auf dem Weg zurück, als es passierte. Ging gerade am Museum vorbei. Ein Luftangriff, garantiert.

Abdullah erzählt nicht gern, er antwortet knapp, aufs Wesentliche fokussiert. Und manchmal hört er einfach auf zu sprechen, als spürte er, dass er gleich die Fassung verlieren könnte. Das will er nicht, er will stark wirken. Je näher das Gespräch dem Abend des 16. August kommt, desto wortkarger wird Abdullah. Er sagt einen Satz, vielleicht zwei Sätze, dann versteinert er.

Haben Sie gefürchtet, die Bombe könnte Ihr Haus getroffen haben?

Nein. Es fielen ja ständig Bomben. Und in unserem Haus waren doch keine Kämpfer.

Abdullah ging mit dem Brot zurück in sein Viertel, leere Straßen entlang, an verlassenen Häusern vorbei. Kurz bevor er die letzte Ecke erreichte, bemerkte er den Staub in der Luft. Erst als er in seine eigene Straße einbog, sah er es. Die zwei Stockwerke seines Hauses waren in sich zusammengestürzt.

Da waren ein paar Nachbarn. Ich habe viel geschrien. Habe die Namen meiner Frau, meiner Kinder gerufen, einen Namen nach dem anderen. Aber da war nichts. Licht konnten wir nicht anmachen, das wäre gefährlich gewesen.

Haben Sie versucht, in die Ruine einzusteigen? Ihre Familie zu suchen?

Nein, es war so dunkel und staubig, ich konnte nichts sehen. Ich stand vor den Trümmern und sah nichts. Wie lange standen Sie da? Ich stand da bis Mitternacht. Ich dachte, vielleicht sind sie nur ohnmächtig und wachen auf und hören dann meine Rufe.

War da noch jemand bei Ihnen?

Die meisten gingen bald, aus Angst vor den Angriffen. Nur einer meiner Nachbarn blieb bis zum Schluss. Er nahm mich dann mit zu sich nach Hause.

Ahmad Abdullah verbrachte die Nacht schlaflos. Am nächsten Morgen ging er mit dem Nachbarn zurück zu seinem Haus, nachsehen, eine Stunde warten, was sonst hätten sie tun sollen? Noch mal alle Namen rufen. Er wollte nach ihnen graben, aber das hätte ihn selbst umbringen können. So stand er nur davor. Rief ihre Namen. Wartete. Nichts.

Warum mussten sie so viele Bomben werfen? Hätten sie nicht mehr auf dem Boden kämpfen können statt aus der Luft? Warum mussten so viele sterben? Warum mussten sie die ganze Stadt kaputt machen?

Die Frage, die Abdullah bis heute vermeidet, sie lautet: War es das wert? Er will nicht Nein sagen, denn das würde den Wahnsinn des IS relativieren. Aber er kann auch nicht Ja sagen. Er sagt es so:

Das Leid, das mit dem Krieg kam, das war größer als das zuvor.

Raqqa ist die einzige Großstadt in Syrien, die im Krieg nacheinander von allen Parteien beherrscht wurde. Erst vertrieben die Rebellen das Assad-Regime aus der Stadt, das war im März 2013. Raqqa war die erste Provinzhauptstadt, in der Assad die Macht verlor. Aber die Rebellen hielten sich nicht lange. Im November schon überrollte der IS ihren Widerstand.

Es folgten unmenschliche Jahre. Die Angst vor der Hisba, der Religionspolizei. Die Angst, der IS könnte Abud einziehen, Abdullahs Sohn. Das Grauen auf dem Naim-Platz, wo die Köpfe von Enthaupteten auf einem Metallzaun aufgespießt waren.

Nicht auffallen, nicht verrückt werden, durchhalten.

Immerhin hoffte Abdullah damals noch auf die Zeit danach. Der IS würde nicht ewig bleiben, da war er sicher. Der Sturm würde vorüberziehen. Und danach konnte es doch nur besser werden. Aber als es so weit war und das Danach begann, war Raqqa eine Schuttlandschaft. Und Ahmad Abdullahs Familie war ausgelöscht.

Es gab keinen Weg zurück mehr. Es gab gar nichts mehr.

Der Kleiderschrank seiner Frau blieb unversehrt, Abdullah verwahrt ihn unverändert
Der Kleiderschrank seiner Frau blieb unversehrt, Abdullah verwahrt ihn unverändert
© Nicole Tung / stern

Wann haben Sie und Ihre Frau geheiratet, Herr Abdullah?

Das war 1998. Ich war schon ganz schön alt, 37, aber ich wollte lange Zeit nicht heiraten, ich mochte mein Leben, ich bin durchs ganze Land gereist. Ich war oft am Meer.

Wie haben Sie zwei sich kennengelernt?

Sumaya war auch aus Raqqa, sie kam aus demselben Viertel. Sie war ein so guter Mensch. Wissen Sie, wir haben uns in all den Jahren nie gestritten.

Sind Sie auch mit ihr gereist?

Nur in den Flitterwochen. Wir haben keine große Feier gegeben nach unserer Hochzeit und das Geld lieber zum Reisen genommen. Wir sind nach Aleppo gefahren und nach Latakia an der Küste. Es war das letzte Mal, dass ich das Meer gesehen habe.

Warum?

Danach bekamen wir Kinder, da konnten wir es uns nicht mehr leisten zu reisen.

Sie haben Syrien nie verlassen?

Nein, nie.

Haben Sie etwas unternommen, wenn Sie frei hatten?

Im Sommer sind wir eigentlich jeden Tag ans Euphrat-Ufer gefahren und haben dort gegrillt, manchmal zusammen mit Nachbarn. Ein bisschen entfernt saßen junge Leute und haben Wasserpfeife geraucht.

Hatten Sie Arbeit?

Ja. Ich hatte zuerst lange einen Laden für Kinderbücher. Später bekam ich eine Stelle bei der Wasserbehörde. Das war nicht schlecht. 30.000 Pfund im Monat – um die 600 Dollar. Meine Brüder und ich haben das alte, einfache Haus meines Vaters abgerissen und an der Stelle das neue gebaut.

Sie haben das Haus mit Ihren eigenen Händen gebaut?

Ja, sicher.

Abdullah geht in den Raum nebenan, einen Anbau. Der einzige Teil des Hauses, der den Angriff überstanden hat. Es ist das Schlafzimmer. Im Schrank hängen die Kleider von Sumaya, es sind bunte Stoffe, grüne, rote, blaue. So zog sie sich an, bevor die IS-Terroristen sie und alle anderen Frauen hinter einen Schleier zwangen, einen schwarzen.

Als Abdullah aus dem Schlafzimmer zurück in den Hof kommt, hat er ein paar Fotos in der Hand. Er legt sie auf den Tisch. Seine Kinder im Wohnzimmer vorm Fernseher, ein Porträt seines Ältesten.

Ein kleines Porträtfoto behält er in der Hand, er möchte es kaum zeigen, er hat Angst, ein Windstoß könnte es wegfegen oder es könnte Tee darüber laufen, er hält es die ganze Zeit in der rechten und hält seine linke Hand schützend darüber.

Das Foto ist ihm das Wichtigste: Sumaya und er, sechs Jahre ist das her.

Sie war so schön. Und ich … ich sah so jung aus.

Als die Bombe auf Abdullahs Haus fiel, starben hier zehn Mitglieder seiner Familie, unter ihnen seine sechs Kinder
Als die Bombe auf Abdullahs Haus fiel, starben hier zehn Mitglieder seiner Familie, unter ihnen seine sechs Kinder
© Nicole Tung / stern

Wie ging es weiter nach dem 16. August, Herr Abdullah?

Mein Nachbar und ich sind in ein anderes Viertel im Zentrum gezogen, wir dachten, dort sei es sicherer. Wir fanden ein verlassenes Haus, in dem schon andere Flüchtlinge wohnten. Vielleicht 35.

Wie lange blieben Sie dort?

Bis zum 7. Oktober.

Was passierte am 7. Oktober?

Ich ging früh raus. Es gab keinen Strom mehr, deshalb gingen wir schlafen, wenn es dunkel wurde, und standen auf, wenn es hell wurde. Mir war nach frischer Luft. Ich ging die Straße runter, zwei Blocks. In die andere Richtung waren es nur noch zwei Blocks bis zur Front. Es waren die letzten Tage.

Abdullah macht eine Pause.

Dann schlug eine Bombe ein.

Wo?

In dem Haus, in dem wir gerade wohnten. Eine riesige Explosion, überall Staub, ich sah nichts mehr. Ich dachte nur, mein Nachbar, der ist da drin. Er lag im ersten Stock und schlief. Er starb im Schlaf.

Sie haben ein zweites Mal überlebt.

Fragen Sie mich jetzt nicht, wie sich das anfühlte. Kann es noch mehr Leid geben?

Es war Nachmittag, als sich eine Gruppe zusammenfand, ein Dutzend Menschen, unter ihnen Abdullah, es waren die Überlebenden dieses Angriffs und ein paar andere, die nebenan ausgeharrt hatten. Sie versammelten sich und beschlossen: Wir gehen. Jetzt.

Wir sagten uns, es reicht, jetzt müssen wir los. Vielleicht sterben wir auf dem Weg, alles war ja noch voller Minen und Scharfschützen. Aber vielleicht sterben wir auch, wenn wir hier bleiben.

Sie machten sich auf den Weg durch den Schutt, der auf den Straßen lag. Zwei Männer nahmen eine Frau im Rollstuhl und trugen sie über die Trümmer hinweg. Sie gingen ganz offen über die Straße, zwischen den Fronten.

Die IS-Scharfschützen hätten uns erschießen können, aber wir sagten uns, es ist in Ordnung. Wir sind sowieso tot. Wir sind schon tot.

Als die Gruppe die erste Stellung der Kurden erreichte, setzten die Soldaten sie in einen Pick-up und brachten sie in eine Moschee. Abdullah rauchte eine Zigarette. Sie tranken Tee. Er schlief ein. Vier Nächte blieb Abdullah in der Moschee, dann nahm er einen Minibus nach Tabqa, die nächste Stadt, er hat Verwandte dort, ein paar Monate würde er dort unterkommen.

Ein Witwer. Ein Überlebender. Syrien ist voll mit Menschen wie Ahmad Abdullah.

In Washington feierte Donald Trump am 21. Oktober 2017 die totale Befreiung von Raqqa. "Wir haben in den letzten Monaten mehr Fortschritte gegen diese bösen Terroristen gemacht als in den letzten Jahren davor." Er erfülle damit ein Wahlkampfversprechen, sagte Trump.

Syrische Stadt Raqqa: "Die Welt interessiert sich nicht für uns. So ist es doch"

Wo leben Sie im Moment, Herr Abdullah?

Mal hier, mal dort. Hier im Haus mag ich noch nicht wieder schlafen. Gestern habe ich bei meiner Schwester übernachtet. Das heißt, nicht bei ihr direkt, ihr Haus ist auch getroffen worden. Bei Freunden von ihr.

Wie viele Geschwister haben Sie?

Ich hatte zwei Brüder und drei Schwestern. Jetzt habe ich noch einen Bruder und zwei Schwestern.

Warum?

Einer meiner Brüder wohnte über uns, er starb mit seiner Frau zusammen, als die Bombe in unser Haus einschlug. Eine meiner Schwestern lebte bei uns. Auch sie ist …

Wann sind Sie zurückgekommen?

Erst im Januar, aber da lag auf den Straßen noch so viel Schutt, dass ich gar nicht bis zu meinem Haus kam. Im Februar versuchte ich es wieder, und da ging es.

Bekamen Sie Hilfe?

Nein. Ich wusste, dass die Männer von der "Raqqa Civil Defense" nach den Verschütteten suchten und die Trümmer wegräumten. Aber die hatten eine Liste, die war mir zu lang. Ich wollte nicht Monate warten.

Und Nachbarn? Freunde?

Jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt, das schmerzt, denn das Helfen ist so sehr Teil unserer Kultur. Aber niemand hat Geld. Jeder sieht nur, dass er selbst durchkommt.

Also?

Also habe ich selbst angefangen. Eine private Firma gab mir ihren Bagger, im Gegenzug schenkte ich ihnen den Stahl meines Hauses. Den haben sie zuerst mitgenommen. Und dann räumte ich mit dem Bagger die Trümmer weg.

Wie lange hat das gedauert?

Den ersten Körper habe ich am dritten Tag gefunden.

Haben Sie gleich erkannt, wer es war?

Er presst die Lippen aufeinander und schaut zu Boden, er braucht einen Moment, bis er antwortet. Es war mein ältester Sohn. Abud.

Und dann haben Sie ...

... ihn zur Seite gelegt und kurz gebetet. Gott gedankt, dass ich ihn gefunden habe. Dann habe ich gleich weitergemacht.

Herr Abdullah, wen haben Sie als Nächstes geborgen?

Meine Frau.

Seine Augen werden feucht, eine Träne rinnt seine Wange hinunter. Er macht die Augen zu. Schluckt.

Als ich Sumaya fand, ging die Sonne unter. Ich nahm sie und meinen Sohn und brachte sie, mit der Hilfe von ein paar Nachbarn, zum Friedhof, draußen am Stadtrand. Da beerdigte ich sie.

In den Tagen danach fand Abdullah seine beiden älteren Töchter, Heyfa und Mona. Dann seinen Sohn Omran. Schließlich die zweitjüngste Tochter, Henna. Bei einem Körper vermutet er, dass es Duha ist, seine Jüngste. Drei fand er nicht: Seinen Bruder, dessen Frau und seine Schwester. Er glaubt, sie liegen irgendwo in der Nähe unter einem Schutthaufen. Abdullah hat lange erzählt, jetzt möchte er sagen, dass sein Schicksal nichts Besonderes ist, es ist ihm unangenehm, so lange über sich zu reden. Außerdem ist er wütend.

Es ist nicht nur mein Haus, meine Familie. Da liegen vielleicht noch Tausende unter den Trümmern. Niemand wird diese Stadt wieder aufbauen, außer uns selbst. Werden die Amerikaner kommen und uns helfen?

Er schnaubt, verzieht das Gesicht. Man sieht ihm die ganze Bitterkeit an. Er spricht jetzt in rhetorischen Fragen. Wie ein Mensch, der keine Antworten mehr sucht.

Was würden Sie erwarten von Amerika?

Ach. Was würde eine Entschuldigung ändern? Würde sie mir meine Familie zurückgeben?

Was ist mit Geld zum Wiederaufbau Ihres Hauses?

Sie werden nicht zahlen. Und wissen Sie, warum? Weil wir nicht ihr Volk sind. Wir sind keine Amerikaner. Wir interessieren sie doch nicht.

Er schweigt einen Moment.

Auch ihr Journalisten könnt doch nichts tun. Die Welt interessiert sich nicht für uns, so ist es doch. Ich klage euch dafür nicht an. Es ist eben so.

Raqqa, Stadt der Ruinen
Raqqa, Stadt der Ruinen: Erst langsam kehren die Menschen zurück in ihre Häuser.
© Nicole Tung / stern

Und wenn Sie etwas sagen könnten, und man würde Ihnen doch zuhören?

Gott ist größer als alle, größer als der amerikanische Präsident, und nicht mal Gott hört uns noch zu.

Später, nach dem Gespräch, führt Abdullah in ein Nachbarhaus, das heil geblieben ist. Er steigt die Treppe nach ganz oben. Er will zeigen, wie zerstört die ganze Gegend ist, deutet auf zerbombte Gebäude, auf Fenster, hinter denen sich IS-Schützen verschanzt hatten. Der IS war überall. Vielleicht nicht direkt in Abdullahs Haus, aber in denen um ihn herum.

In jenen Wochen wollten alle einen schnellen Sieg, eine schnelle Befreiung. Die Kurden am Boden und die USA in der Luft. So viele Häuser waren schon zerstört, der Krieg dauerte schon so lange. Ein Haus mehr oder weniger? Eine Bombe mehr oder weniger? Ein paar Tote mehr in einem Krieg mit Hunderttausenden Toten, wenn dafür der IS schneller besiegt ist?

Die Befreier wollten es zu Ende bringen. Sie gaben nicht mehr so sehr Acht. Darin liegt das Verbrechen.

So starben Sumaya und Abud.

Heyfa.

Mona.

Omran.

Henna.

Und Duha.

Gehen Sie oft auf den Friedhof, Herr Abdullah?

Manchmal, ja. Ich habe sie alle nebeneinandergelegt, meine Frau und meine Kinder. Nur durch ein bisschen Erde voneinander getrennt, sodass ich genau weiß, wer wo liegt.

Abdullah und die anderen Menschen in Raqqa brauchen Hilfe für den Aufbau. Bitte spenden Sie an: IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 00 BIC DEUTDEHH – Stichwort "Raqqa"; www.stiftungstern.de

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