Russland-Experte erklärt Was Putin mit seiner Eskalation bezwecken will – und was daraus folgen könnte

Russlands Präsident Wladimir Putin
Russlands Präsident Wladimir Putin: "Das ist kein Bluff"
© Alexander Zemlianichenko/AP / DPA
Russland reagiert auf die Gegenoffensive der Ukraine mit einer Teilmobilmachung und Pseudo-Abstimmungen. Was folgt daraus? Anruf bei Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler und Kreml-Experte.

Wladimir Putin dreht an der Eskalationsschraube, wieder einmal, und leitet eine neue Phase des Krieges ein. Im Eilverfahren will Russland Scheinabstimmungen abhalten, um sich mehrere in der Ukraine besetzte Gebiete einzuverleiben, ebenso rasch wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, um die sofortige Teilmobilmachung von 300.000 Soldaten zu ermöglichen (lesen Sie hier mehr über die Hintergründe).

"Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen", sagte Präsident Putin am Mittwoch in einer Fernsehansprache. "Das ist kein Bluff." 

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Die Schritte erfolgen in einer Phase des Krieges, die sich alles andere als optimal für den Kriegstreiber aus dem Kreml darstellt. Zuletzt hatte Putin auf seinem Feldzug gegen die Ukraine mehrere Misserfolge hinnehmen müssen.

So musste sich die russische Armee infolge einer Gegenoffensive aus zahlreichen umkämpften Gebieten zurückziehen. Die Kritik an Putins Kriegsführung im eigenen Land wächst. Und auch der Druck aus dem Ausland nimmt zu: Zuletzt sind die Staatsoberhäupter Chinas und Indiens – die beide entscheidend dazu beigetragen haben, dass die russische Wirtschaft nicht unter den westlichen Sanktionen kollabiert – auf Distanz gegangen

Nun reagiert Putin. Was ist sein Plan?

Anruf bei Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck: Russland offenbare eine "deutliche militärische Schwäche", sagt er zum stern, und versuche sich neues Drohpotenzial gegenüber Kiew und dem Westen zu verschaffen.  

"Eine politische und militärische Hürde für die Ukraine"

"Der wirkliche Zweck der 'Abstimmungen', die natürlich für den Beitritt zur russischen Föderation ausgehen werden, liegt darin, eine politische und militärische Hürde für die Ukraine aufzubauen", so Mangott. "Wird die Ukraine Angriffe auf Gebiete durchführen, die dann – nach russischer Rechtslage – zum russischen Staatsgebiet gehören?" 

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Hintergrund: Die von Moskau gestützten Separatistengebiete Donezk und Luhansk sowie die im Krieg eroberten Regionen Donezk und Saporischschja planen vom 23. bis 27. September Volksabstimmungen. Die zeitgleichen "Referenden" ohne jedwede Kontrolle laufen auf einen schnellen Anschluss an Russland heraus. Auf ähnliche Weise hat der Kreml sich 2014 die ukrainische Halbinsel Krim einverleibt.

Es habe zwar schon ukrainische Gegenschläge auf von Russland besetztes Gebiet gegeben, etwa auf der annektierten Krim. "Doch bisher hat noch kein ukrainischer Soldat einen Fuß auf vermeintlich russisches Gebiet gesetzt, also auf Territorium, das Russland offiziell für sich beansprucht", sagt der Politikwissenschaftler. "Das wäre eine neue Qualität."

Und darum gehe es Putin: "Er will die Ukraine mit der Situation konfrontieren, ob sie vermeintlich russisches Staatsgebiet erobern möchte." Sowohl die Scheinabstimmungen, als auch die Teilmobilmachung und die unverhohlene Nuklear-Drohung, "alle zur Verfügung stehenden Mittel" zu nutzen, sollen abschrecken.

"Ob sich die Ukraine abschrecken lässt, ist mehr als zweifelhaft", meint der Russland-Experte. "Putin hat zwar eine Teilmobilmachung angeordnet, es wird aber einige Zeit brauchen, um die Reservesoldaten an die Front zu bringen und sie in die bestehenden Strukturen einzugliedern." 

Mit der Teilmobilmachung sollen nach Angaben von Putin und seines Verteidigungsministers 300.000 Reservisten an die Front entsandt werden. Eingesetzt werden sollen demnach Menschen, die bereits gedient oder militärische Erfahrung haben.

"Nicht zuletzt hat Putin diese Maßnahme ergriffen, weil die russische Streitkraft an bestimmten Frontabschnitten geschwächt ist – deswegen war die ukrainische Gegenoffensive in Charkiw so erfolgreich", analysiert Experte Mangott. Nun dränge die ukrainische Armee bereits auf das Gebiet der "Volksrepublik" Luhansk vor, die nach Putins Plänen spätestens in sieben Tagen zum russischen Staatsgebiet gehören soll. "Es ist daher denkbar, dass bis dahin ukrainische Angriffe stattfinden werden – und sie sich nicht von Russlands Drohungen abschrecken lassen." 

"Dann glaube ich, war es das vorerst mit Russlands Ambitionen"

Für den Experten weisen sowohl die Teilmobilmachung als auch die Scheinabstimmungen daher auf eine "deutliche militärische Schwäche Russlands" hin. "Putin sieht sich zu den Maßnahmen gezwungen, trotz der vielen politischen Risiken und dem wachsenden Unmut in der eigenen Bevölkerung." Auch seine Drohung, "alle zur Verfügung stehenden Mittel" nutzen zu wollen, ziele sicher auf die intensiveren Überlegungen im Westen ab, die Ukraine künftig mit Schützen- und Kampfpanzern sowie weitreichender Artillerie zu unterstützen. "Putin will damit signalisieren, dass er diesen Krieg weiterführen will – und letztlich muss er das auch, weil er zu einer Art von Erfolg verdammt ist." 

Nur: Wann hat Putin sein Ziel erreicht? An der vermeintlichen Befreiung des Donbass hält er fest, spricht aber nicht mehr von der angeblichen "Denazifizierung" und "Demilitarisierung" der Ukraine als Kriegsziele. Steckt der russische Präsident damit seine Ambitionen zurück – oder nimmt er nur Anlauf für eine weitere Eskalation?

"Putin weiß, dass mit der heutigen Ankündigung der Teilmobilmachung – und vor allem der Annexion weiterer Gebiete – jeder Gesprächskanal mit der Ukraine noch weiter geschlossen und es auf absehbare Zeit keine Verhandlungen geben wird, die Kiew sowieso nicht haben wolle", so der Politikwissenschaftler. Vor diesem Hintergrund könne der Schritt auch als Signal Putins verstanden werden, dass er eine "begrenzte Eroberungsabsicht" habe. Von wegen: Russland wolle "nur" die Gebiete, die es jetzt schon hält, aber nichts darüber hinaus.

"Wenn das russische Kriegsziel jetzt lauten sollte, die eroberten Gebiete zu halten und den Rest von Donezk zu erobern", so Mangott, "dann glaube ich, war es das vorerst mit den russischen Ambitionen für mehrere Jahre – mehr kann Putin nicht erreichen." Ein Kriegsende werde das allerdings nicht bedeuten: "Die Ukraine will auf keine Gebiete verzichten und lehnt Verhandlungen darüber ab."

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