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Propaganda im Ukraine-Krieg Vier dreiste Behauptungen der russischen Regierung – und was davon zu halten ist

Anti-Kriegs-Protest im russischen TV
Anti-Kriegs-Protest im russischen TV: den Schleier der Propaganda gelüftet
© AFP
Für einen kurzen Moment hat der Protest der TV-Journalistin Marina Owsjannikowa die russische Kriegspropaganda durchbrochen. Ein Blick auf besonders dreiste Behauptungen der Putin-Regierung – und was davon zu halten ist.

Es herrscht gar kein Krieg in der Ukraine, Russland verteidigt sich nur gegen eine Bedrohung von außen, eigentliche Kriegstreiber sind die USA und die Nato – die russische Staatspropaganda entwirft rund um den Ukraine-Krieg eine "alternative Realität". Mit ihrem Protest im russischen TV hat die Journalistin Marina Owsjannikowa wenigstens für einige Momente den Schleier gelüftet. "Hier werdet ihr belogen", stand auf ihrem Plakat zu lesen. Selbst auf internationaler Bühne aber bleiben die Vertreter der Regierung von Präsident Wladimir Putin bei ihren Darstellungen. Ein Blick auf besonders dreiste Behauptungen.

"Wir haben die Ukraine nicht attackiert"

Das sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow am 10. März nach einem Gespräch mit seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba. Genauer: "Wir werden keine anderen Länder attackieren, haben auch die Ukraine nicht attackiert." Ein bemerkenswerter Satz, geäußert nach zwei Wochen Krieg vor den Augen der Welt, mit zahlreichen ausländischen Beobachtern im Kriegsgebiet und zunehmend spürbaren Folgen – von einem zunehmenden Flüchtlingsstrom bis hin zu sprunghaft steigenden Energiepreisen.

Viele Monate lang hat Russland zudem Truppen an der Grenze zum Nachbarland zusammengezogen, um ungeachtet intensiver, weltweiter Diplomatie schließlich am 24. Februar einzumarschieren – ohne direkte Provokation. Und: Es war nicht der erste Überfall Russlands auf das Nachbarland. Schon seit 2014 ist die Halbinsel Krim von Russland völkerrechtswidrig annektiert. Und im selben Jahr wurden mit Hilfe von pro-russischen Milizen die ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk in einen bis zur aktuellen Invasion andauernden Bürgerkrieg gestürzt.

Ukraine verübt einen Genozid im Donbass

Eine geschickte Behauptung von Putin in seiner Kriegserklärung, weil ein Genozid als legitimer Grund für ein militärisches Eingreifen gilt. Für einen systematischen Völkermord an russisch-stämmigen oder russisch-sprachigen Menschen in den seit 2014 umkämpften Oblasten Donezk und Luhansk haben aber weder die OSZE noch die Vereinten Nationen Hinweise. De facto herrscht im Donbass seit acht Jahren Krieg, es gibt dementsprechend Todesopfer, die sich offiziellen Angaben zufolge bis vor der aktuellen Invasion auf 14.000 beliefen, und Amnesty International stellte schon 2014 fest, dass beide Seiten im Donbass Kriegsverbrechen begehen. Aber ein systematischer Völkermord? Selbst wenn man die Absicht unterstellen würde, gäbe es dafür gibt es in den von kremltreuen Separatisten kontrollierten Gebieten jenseits der 2015 im Minsker Abkommen festgelegten "Kontaktlinie" schlicht keine Möglichkeit.

Immer wieder – so auch am vergangenen Wochenende – werden von Russland Massengräber erschossener Zivilisten angeführt, die den Genozid durch ukrainische Einheiten belegen sollen. Die Angaben zu diesen Gräbern sind aber widersprüchlich, wie die "Deutsche Welle" in einer Bestandsaufnahme berichtet – selbst die Zahl der Getöteten schwankt in den Angaben der Ukraine, der Donbass-Separatisten und Russlands erheblich. Dass in den Separatistengebieten mehr Zivilpersonen sterben als auf ukrainischer Seite belegen auch OSZE-Statistiken, doch liege das daran, dass die ukrainische Armee Artillerie einsetze, während die kremltreuen Milizen mit Scharfschützen vorgingen. Weitgehend unstrittig ist, dass die Massengräber aus dem Jahr 2014 stammen, also aus einer Zeit, als in der Region heftig gekämpft wurde. Experten gehen daher davon aus, dass es sich – furchtbar genug – um Opfer von Kriegshandlungen handelt, aber nicht um systematisch durchgeführte Tötungen.

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Ukraine muss von einem Nazi-Regime befreit werden

Teil des Kriegsvorwandes Genozid ist auch die Behauptung Putins, die Ukraine müsse "entnazifiziert" werden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj führt allerdings keine faschistische Regierung und die Soldaten der russischen Armee werden auch nirgendwo als Befreier begrüßt. Im Gegenteil ist vielfach dokumentiert, wie sich die Zivilbevölkerung offen gegen die russischen Soldaten und für die Ukraine positioniert. Am vergangenen Wochenende kursierte ein Video aus der Stadt Cherson in der Südukraine, in dem Demonstranten an den Panzerfahrzeugen der russischen Armee entlang gingen und laut "Cherson ist ukrainisch" skandierten.

Außerdem: Der als Faschist bezeichnete ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist Jude. Sein Großvater kommandierte während des Zweiten Weltkriegs eine Schützenkompanie in der russischen Armee. Drei Brüder von Selenskyjs Großvater sowie der Urgroßvater des Präsidenten wurden Opfer des Holocaust. "Wie kann ich ein Faschist sein", fragte der ukrainische Präsident jüngst in einer seiner Videoansprachen rhetorisch.

Die ukrainische Armee bombardiert selbst die Städte

Nach russischer Lesart absolviert die Invasionsarmee eine "militärische Spezialoperation", die ausschließlich auf militärische Ziele zielt. Das gilt auch jetzt noch. Wie aber erklären sich dann die zahllosen Fotos, Videos und Berichte, die die Verwüstung ganzer Straßenzüge vor allem in Charkiw und Mariupol zeigen, wie erklären sich Zerstörungen von Schulen und Krankenhäuser, wobei es sich um Kriegsverbrechen handelt? In einem Aufsehen erregenden Interview mit der BBC betonte die Putin-loyale Duma-Abgeordnete, frühere Agentin und in den USA als Verschwörerin verurteilte Marija Butina, die Russen seien es jedenfalls nicht, dafür gebe es angeblich tonnenweise Belege.

Auf die Nachfrage, ob sie in Abrede stellen wolle, dass die ukrainischen Städte bombardiert würden, entgegnete sie, dass sie Beweise sehen wolle, dass dies durch die russische Armee geschehe. Konsterniert fragte der BBC-Interviewer Nick Robinson noch einmal nach: "Moment, Stopp bitte! Wollen Sie andeuten, dass die Granaten, die ukrainische Städte dem Erdboden gleichmachen, von Ukrainern abgefeuert werden?" Die Antwort: "Ich hoffe nicht. Ich hoffe, niemand auf der Welt würde seine eigene Bevölkerung bombardieren. Ich möchte nicht daran glauben (...), aber ich rede mit diesen Leuten, vielen von ihnen. Es ist unnormal." Belege für ihre indirekte Behauptung lieferte Butina nicht.

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Widersprüche machen die russische Kriegspropaganda übrigens nicht verlegen. Beispiel: bombardierte Geburtsklinik in Mariupol vor rund einer Woche. Das russische Verteidigungsministerium gab an, es habe in der Region gar keinen Angriff gegeben. Außenminister Lawrow hatte dann doch eine Begründung für die Attacke: die Klinik sei Basis des rechtsradikalen paramilitärischen Asow-Regiments gewesen, das das Personal der Klinik vertrieben habe. Ein Beleg dafür wurde nicht präsentiert. Als sich dann Bilder der Zerstörung und von verletzten schwangeren Frauen häuften, wurde ein anderes Narrativ bemüht – und das sogar bei den Vereinten Nationen: Eine Schauspielerin habe alle verletzten Schwangeren gespielt. Grundlage war, dass auf Fotos eine Beauty-Bloggerin im gepunkteten Schlafanzug zu sehen war. Das ZDF  konnte belegen, dass die Bloggerin tatsächlich in der Klinik ein Kind zur Welt bringen wollte.

Quellen: Amnesty International; UN-Völkermordkonvention; Bundeszentrale für politische BildungDeutsche Welle; "Frankfurter Rundschau"; "Jüdische Allgemeine"BBC; ZDF; Nachrichtenagentur DPA

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