Sie sitzen an Tischen, in Militär-Kleidung, teils verwundet. Vor ihnen: Mikrofone und Journalistinnen und Journalisten. Es sind – nach Angaben der Ukraine – russische Kriegsgefangene, die dort den Reporterinnen und Reportern präsentiert werden und ihre Fragen beantworten. Eine Praxis, die schon seit Tagen von den Behörden in der Ukraine durchgeführt wird. Inwieweit die russischen Soldaten diese Pressekonferenzen freiwillig abhalten, ist unklar.
Doch die Videos von solchen Pressekonferenzen und von anderen russischen Kriegsgefangenen werden in der Ukraine fleißig verbreitet. Ziel ist es, dass die russischen Soldaten berichten sollen, dass sie russischer Propaganda über den Krieg ausgesetzt waren.
So berichtet auch die Nachrichtenagentur Interfax-Ukraine von diesen umstrittenen Pressekonferenzen. "Russen, tut alles, um diesen Krieg zu stoppen. Weder die Ukraine noch Russland brauchen diesen Krieg. Nur Putin braucht diesen Krieg", wird etwa ein Kriegsgefangener zitiert. Ein anderer mit den Worten: "Russische Wehrpflichtige, Ihre Kinder, sterben hier. Meine Kameraden sterben. Sie sterben einfach, weil sie getäuscht werden. Putin täuscht sie, schickt sie in den Tod." Es wird berichtet, wie Kriegsgefangene aus Russland die Ukrainer um Verzeihung bitten. Ob die Aussagen unter Zwang oder Druck zustande kamen, ist unklar.
Human Rights Watch fordert Ukraine auf, Videos zu stoppen
Nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj konnte die Ukraine bisher knapp 1000 russische Soldaten gefangen nehmen. Diese Zahl nannte der Staatschef der Agentur Ukrinform zufolge vergangene Woche bei einem Online-Treffen mit dem Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan.
Doch diese Pressekonferenzen und Videos von Kriegsgefangenen sorgen bei internationalen Menschenrechtsorganisationen für Kritik. So fordert Human Rights Watch (HRW) die ukrainischen Behörden dazu auf, das Teilen von Videos mit russischen Kriegsgefangenen zu stoppen – "insbesondere solche, die zeigen, dass sie gedemütigt oder eingeschüchtert werden". Denn das verstoße gegen die Genfer Konvention.
So berichtet Human Rights Watch, dass der ukrainische Geheimdienst SBU auf seinem Telegram-Kanal mit rund 868.000 Followern Videos verbreitet, in dem offenbar russische Kriegsgefangene ihre Namen und Adressen preisgeben. Auch auf anderen Kanälen und sozialen Medien werden diese Videos laut der Menschenrechtsorganisation verbreitet.
Amnesty International: Konfliktparteien sollen Rechte der Kriegsgefangenen respektieren
Die Menschenrechtsorganisation berichtet etwa von einem Video mit 2,2 Millionen Aufrufen auf dem Telegram-Kanal der SBU, welches einen gefangenen russischen Soldaten zeigt, der mit seiner Mutter telefoniert. Ein weiteres zeige einen Kriegsgefangenen, der im Verhör seinen Namen, sein Geburtsdatum und Einzelheiten zu seiner Militäreinheit angibt. Ein Video auf der Facebook-Seite des Sicherheitsdienstes mit über 5,4 Millionen Aufrufen zeigt laut HRW einen Kriegsgefangenen mit verwundetem Gesicht und bandagiertem Bein, der sagt, er sei durch Weißrussland nach Tschernobyl gelangt. Die Behörden sollen auch tote russische Soldaten auf ihren Kanälen zeigen. Die Echtheit dieser Videos kann allerdings nicht verifiziert werden.
Auch Amnesty International mahnt an, dass "die Rechte der Kriegsgefangenen bei der russischen Invasion in der Ukraine gemäß der Dritten Genfer Konvention respektiert werden müssen". Joanne Mariner, Direktorin des Krisenreaktionsprogramms von Amnesty International, sagte: "Während der Konflikt andauert, ist es von entscheidender Bedeutung, dass alle Konfliktparteien die Rechte der Kriegsgefangenen uneingeschränkt respektieren." Öffentliche Auftritte von Kriegsgefangenen könnten diese bei der Rückführung in ihr Heimatland gefährden, ebenso ihre Familien.
Genfer Konvention schützt Kriegsgefangene
"Die Verpflichtung, Kriegsgefangene davor zu schützen, Objekte der öffentlichen Neugier zu sein, sowie der Schutz vor Einschüchterung oder Demütigung, sind Teil der umfassenderen Anforderung, ihre humane Behandlung sicherzustellen und ihre Familien vor Schaden zu schützen", sagte Aisling Reidy, Senior Legal Advisor bei Human Rights Watch.

HRW betont allerdings auch, dass es "umfangreiche Verstöße gegen das Kriegsrecht und offensichtliche Kriegsverbrechen durch russische Streitkräfte" dokumentiert habe, "darunter willkürliche Angriffe auf Zivilisten mit Streumunition und anderen Waffen und die Verhinderung von Zivilisten, aus Kampfgebieten zu fliehen".
Die Menschenrechtsorganisationen berufen sich auf Artikel 13 der Genfer Konvention, genauer des Dritten Genfer Abkommens. Dieses besagt: "Kriegsgefangene müssen jederzeit menschenwürdig behandelt werden. Jede rechtswidrige Handlung oder Unterlassung des Gewahrsamsstaates, die den Tod oder die ernsthafte Gefährdung der Gesundheit eines Kriegsgefangenen in seinem Gewahrsam verursacht, ist verboten und wird als schwerwiegender Verstoß gegen diese Konvention angesehen." Neben Verstümmelungen und erzwungenen medizinischen Eingriffen müssen Kriegsgefangene demnach auch "jederzeit geschützt werden, insbesondere vor Gewalttaten oder Einschüchterungen sowie vor Beleidigungen und öffentlicher Neugier. Vergeltungsmaßnahmen gegen Kriegsgefangene sind verboten."

Vitali Klitschko: Pressekonferenzen Mittel gegen Russlands Propaganda
Trotz der Kritik verteidigt Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko diese Praxis. "Ich organisiere diese Pressekonferenzen nicht, aber meiner Meinung nach ist es wichtig, dass die Menschen verstehen, wie groß der Einfluss der Propaganda ist und dass das Volk in Russland 'zombifiziert' ist", sagte er dem dänischen Rundfunk Danmarks Radio. "Während die ganze Welt sehen kann, dass Russlands Krieg ein Angriff auf die Menschenrechte ist, wo Zivilisten sterben, bekommt der normale Russe erzählt, dass der Krieg gerechtfertigt sei", ergänzt er. Deshalb seien die Videos der russischen Kriegsgefangenen ein Mittel, um die russische Propaganda zu stoppen.
Human Rights Watch appellierte auch an Social-Media-Plattformen, zu klären, "ob und wie Videos von Kriegsgefangenen, die mit den Genfer Konventionen nicht vereinbar sind, unter ihre bestehenden Richtlinien fallen". Gegebenenfalls müssten diese angepasst werden, um die Verbreitung solcher Inhalte zu unterdrücken. Außerdem solle die Ukraine sicherstellen, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) Zugang zu allen Kriegsgefangenen bekommt.
Dazu will der Präsident des IKRK, Peter Maurer, nach Moskau reisen, um Besuche bei Kriegsgefangenen zu ermöglichen. Maurer sagte der Nachrichtenagentur AFP am Montag, dass er in den nächsten Tagen mit hochrangigen Vertretern des Verteidigungs- und des Außenministeriums zusammentreffen werde.
Ukraine will Gefangene austauschen – oder für den Wiederaufbau behalten
Die Reise folgt auf Maurers Besuch in der Ukraine in der vergangenen Woche. Eigenen Angaben zufolge hat er von beiden Seiten "sehr positive Hinweise" erhalten, "was unser Mandat und unsere Rolle im Rahmen der Genfer Konventionen betrifft". Eine der Hauptaufgaben des IKRK in Konfliktsituationen besteht darin, dazu beizutragen, dass Kriegsgefangene menschenwürdig behandelt werden und mit ihren Familien kommunizieren können.
Die Organisation hat bisher von keiner der beiden Kriegsparteien Zugang zu Gefangenen erhalten. Er habe jedoch "Informationen bekommen, die es uns ermöglichen werden, sehr bald mit groß angelegten Besuchen von Kriegsgefangenen zu beginnen", sagte Maurer. Das IKRK betont stets seine Neutralität. Es sei auf Vereinbarungen der Konfliktparteien angewiesen. "Wir sind nicht in der Lage, irgendetwas durchzusetzen", sagte er.
Vonseiten der Ukraine hieß es, dass man russische Kriegsgefangene austauschen werde. Allerdings nicht alle. So sollen nach Angaben des ersten stellvertretenden Innenministers der Ukraine, Yevhen Enin, Kriegsgefangene auch zum Wiederaufbau der Ukraine eingesetzt werden, wie Interfax-Ukraine berichtet. "Die Ukraine handelt strikt in Übereinstimmung mit den internationalen Normen des humanitären Rechts, insbesondere der Genfer Konvention, die ein integraler Bestandteil der nationalen Gesetzgebung der Ukraine ist", betonte er.
Die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, Iryna Wereschuk, erklärte ebenfalls, dass russische Kriegsgefangene in der Ukraine ausgetauscht werden – oder bestraft. "Wir werden im Sinne des humanitären Völkerrechts arbeiten. Und wir werden auf jeden Fall einen Austauschfonds gründen."
Liudmyla Denisova, Menschenrechtskommissarin des ukrainischen Parlaments, sagte laut Interfax-Ukraine ebenfalls: "Wir haben uns darauf geeinigt, keine Daten über die Zahl der Gefangenen zu verbreiten. Wir müssen alles tun, um sie auszutauschen."
Die Nachrichtenagentur berichtet ebenfalls von russischen Kriegsgefangenen, die in der Ukraine bleiben wollten – aus Angst um ihr Leben, wenn sie nach Russland zurückkehren. Ein Kriegsgefangener wird mit den Worten zitiert: "Wenn wir ausgetauscht werden, werden wir von unseren eigenen Leuten erschossen." Auch hier ist unklar, ob diese Aussagen auf einer Pressekonferenz unter Druck zustande kamen.
Weitere Quellen: Nachrichtenagenturen DPA und AFP