Eine unwirkliche Stille liegt über Mossul. Die Sonne scheint, sie taucht das Grauen in ein mildes orientalisches Licht. Bei der Fahrt durch die Stadt sieht man Strommasten, die umgeknickt sind wie Streichhölzer. Autowracks, aufgetürmt zu bizarren Schrotthalden. Eingestürzte Wassertürme. Zerschossene Häuserfassaden und Betonmauern, deren rostigen Stahlarmierungen sich in den blauen Himmel biegen. Ganze Straßenzüge, ganze Stadtviertel bestehen nur noch aus Bergen von Schutt.
Und dazwischen: Menschen, ja Menschen. Ein Mann liegt, mitten in dieser apokalyptischen Landschaft auf einem Sofa am Straßenrand. Junge Leute sitzen in Plastikstühlen vor einem zerschossenen Ladenlokal und trinken Tee. Die Menschen wirken in dieser Stadtwüste wie Vögel, klein und zerbrechlich, die aus ihrem Nest gefallen sind.
Wenn es einen Gott gibt, dann muss er diese Stadt vergessen haben.
Und dann hört man die Geräusche von Presslufthämmern und Baggern. Irgendwo räumen sie Trümmer weg.
Mossul, das Stalingrad des Irak
Wie viel Trost das Geräusch eines Baggers spenden kann – hier, in Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak, die einst eine blühende Metropole war. Dann kam die Schlacht um die Stadt, die der "Islamische Staat" eingenommen hatte, ein monatelanger Häuserkampf tobte, der brutalste seit dem Zweiten Weltkrieg, so jedenfalls die Einschätzung des für die dortigen Operationen zuständige US-General Joseph Martin. Mossul war das Stalingrad des Irak.
"Sollte was passieren, nicht das Fahrzeug verlassen!", hat der Kommandoführer des Bundeskriminalamtes (BKA) beim "Sicherheitsbriefing" am Vorabend gesagt. "Bleiben Sie im Auto, machen Sie sich möglichst flach. Wir benutzen sondergeschützte Fahrzeuge. Gibt es einen Zwischenfall außerhalb der Fahrzeuge, werden wir versuchen, die Schutzperson in die Fahrzeuge zu evakuieren. Folgen Sie uns dann."
Entwicklungsminister Müller und seine Mission
Die "Schutzperson" ist Deutschlands Entwicklungsminister Gerd Müller, der die zerschossene Stadt am dritten Tag seiner Irak-Reise besucht. Noch immer befinden sich versprengte Restgruppen des IS in der Stadt, zudem liegen überall verborgene Minen und sogenannte IEDs, "Improvised Explosive Device", Sprengfalllen, die von den Gotteskriegern des IS zurückgelassen wurden.Aber Müller lässt sich nicht abhalten. 700 Millionen Dollar soll der Wiederaufbau von Mossul nach ersten, vorsichtigen Schätzungen kosten. Deutschland ist dabei, hilft beim Wiederaufbau von Schulen, Krankenhäusern, Wasser- und Stromversorgung. Müller will, dass alle das wissen. Und, dass er daheim die nötigen Gelder im neuen Haushalt bewilligt bekommt. Aber der BKA-Kommandoführer bleibt bis zuletzt nervös.

Trinkwasser, versehen mit Sprengstoff
In gepanzerten Toyota-SUVs geht es weiter zum Al-Shifaa-Hospital, wo sich der IS zuletzt mit seiner Kommandozentrale verschanzt hatte. Es war eine der modernsten Kliniken des Irak, mit medizinischer Versorgung von internationalem Standard. Jetzt ist das Areal völlig verwüstet. Im Schutt liegen noch die Metallgestelle von Krankenbetten und Medikamentenpackungen. Die Minenräumer haben bisher 2500 Sprengsätze auf dem Gelände gefunden, aber bis heute darf man sich nur auf abgesicherten Pfaden über das Grundstück bewegen.

Die Experten der UNO-Minenräum-Mission UNMAS zeigen an gefundenen Gegenständen die perfiden Tricks der IS-Kämpfer: So "belieferten" sie die halb verdurstenden Bewohner von Mossul mitten in der Hölle des Häuserkampfes mit Trinkwasser. Aber die Flaschen wurden auf einem kleinen Plastikuntersatz mit Hebelmechanik deponiert. Nahm man eine Flasche hoch, wurde der Zündmechanismus für den darunter befindlichen Sprengsatz ausgelöst.
"Unvorstellbar, oder? Ist schon irre", sagt der Minister aus Deutschland, als er mit seiner schusssicheren Weste auf dem verwüsteten Klinik-Gelände steht. "Diese Leute, die hier Minen räumen, das sind für mich Helden."

Zwei plus drei ist immer noch fünf
1,3 Millionen Menschen, die aus Mossul geflohen waren, konnten schon in die Stadt zurückkehren. Weitere 1,2 Millionen warten noch darauf. Ihre Häuser sind zerbombt, es gibt kaum Jobs und viel zu wenig Schulen. Diese Stadt blutet aus so vielen Wunden und die schlimmsten kann man wohl nicht sehen. Mossul war vor dem Krieg eine tolerante, weltoffene Stadt, in der Muslime, Christen, Jesiden, Kurden und Araber zusammen lebten. Dieses faszinierende multireligiöse und multiethnische Gebilde gibt es nicht mehr. Dafür unendlich viel Trostlosigkeit – und Hass in den Herzen.
"Der Krieg ist mit dem letzten Schuss nicht zu Ende", sagt Müller. Minuten später steht er auf dem Vorplatz der zusammengebombten al-Nur-Moschee, in der der Führer des IS sein "Kalifat", den "Islamistischen Staat" ausrief. Das zerschossene Minarett der Moschee steht wie ein stummes Mahnmal aus großer, reicher kultureller Vergangenheit auf dem Vorplatz. "Fuck ISIS", hat jemand an eine Wand nah der völlig zerstörten Al-Nuri-Moschee gesprayt.

Dann fährt der schwer gesicherter Konvoi des Ministers ein in die Al Huda Schule, die mit Geldern aus Deutschland wieder aufgebaut wurde, nachdem sie drei Jahre geschlossen bleiben musste. Müller schaut in eine Schulklasse, sechs- und siebenjährige Mädchen und Jungen in Schuluniform jubeln ihm zu.

"So, jetzt habe ich eine Rechenaufgabe", sagt der Minister zu den Kindern, die wohl kaum wissen dürften, wer der große Mann mit der Brille aus dem fernen Deutschland ist. "Zwei und drei ist?" Ein Junge meldet sich und sagt auf Arabisch: "Fünf!"
Irgendwie hat das dann doch etwas Tröstliches. Es regt sich wieder Leben in Mossul. Und zwei plus drei ist immer noch fünf. Auch nach dem Inferno.
