Nach der Detonation auf der Krim-Brücke, die weithin als schwerer symbolischer wie strategischer Schlag gegen Russland gewertet wurde, hat der Kreml mehrere Großstädte in der Ukraine mit einer Reihe an Raketenschlägen überzogen. Es gibt offenbar zahlreiche Tote und Verletzte. In fast allen Landesteilen herrscht Luftalarm.
- Die ukrainische Hauptstadt Kiew ist nach Angaben von Bürgermeister Witali Klitschko unter russischem Raketenbeschuss. Es seien Ziele im Zentrum getroffen worden. Nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj gibt es mehrere Tote und Verletzte.
- Auch auf die Region Region Dnipropetrowsk um die Industriestadt Dnipro habe es einen "massiven Raketenangriff" gegeben, teilt Militärgouverneur Valentin Resnitschenko mit, der Tote und Verletzte gefordert habe.
- Über Einschläge berichten auch die Behörden von Lwiw, Chmelnyzkyj und Schytomyr.
- Bereits seit dem Wochenende wird auch die Großstadt Saporischschja beschossen. Nach ukrainischen Angaben soll es mehr als ein Dutzend Tote geben.
Der schwere Beschuss ist offenkundig eine Reaktion auf die Explosion auf der Krim-Brücke, die Moskau seit dem Wochenende zum Schäumen bringt. Die Detonation erfolgte nur einen Tag nach Präsident Wladimir Putins (traurigen) 70. Geburtstag und inmitten wachsender Kritik an seiner Kriegsführung, die zuletzt eine Reihe von verheerenden Rückschlägen für die russische Armee zur Folge hatte.
Wladimir Putin spricht von "Terrorakt"
Schon zuvor hatte Russland mit schwerwiegenden Vergeltungsmaßnahmen für jeden Angriff auf die strategisch wichtige Verbindungsbrücke gedroht, die das russische Festland an die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim anschließt.
Einerseits gilt sie als wichtiger Nachschubweg für die russischen Truppen, die insbesondere im Süden der Ukraine durch eine intensive Gegenoffensive unter Druck geraten. Andererseits besiegelte Putin mit dem Bauwerk die illegale Annexion der Krim, weshalb die Brücke auch als Prestigeobjekt des russischen Präsidenten gilt.
Putin bezeichnete die Explosion als einen "Terrorakt", der auf die "Zerstörung kritischer ziviler Infrastruktur der Russischen Föderation ausgerichtet" sei und machte den ukrainischen Geheimdienst dafür verantwortlich.
Obwohl die Regierung in Kiew keinen Hehl aus ihrer Schadenfreude über die Zerstörung auf der Krim-Brücke macht, hat sie bislang nicht die Verantwortung für den mutmaßlichen Angriff übernommen. Die Hintergründe der Explosion, die Moskau auf eine Lkw-Bombe zurückführt, sind noch immer unklar.
Kremltreue Kriegsbefürworter fordern Konsequenzen
Nach der Explosion auf der Krim-Brücke forderte eine Reihe von kremltreuen Kriegsbefürwortern weitreichende Vergeltungsmaßnahmen und erhöhten damit den Druck auf Präsident Putin, der nach mehreren Misserfolgen angekündigt hatte, "alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen." Im Westen wurden seine Worte als bislang deutlichste Drohung mit einem Atomwaffeneinsatz gelesen (mehr darüber lesen Sie hier).
- Dmitri Medwedew, Russlands früherer Präsident, forderte die Vernichtung der Verantwortlichen. "Alle Berichte und Schlussfolgerungen sind gemacht. Russlands Antwort auf dieses Verbrechen kann nur die direkte Vernichtung der Terroristen sein", so Medwedew.
- Konstantin Dolgov, ein Mitglied des russischen Oberhauses, brandmarkte die Explosion als "Terroranschlag" und "eine weitere finstere Manifestation der terroristischen Natur des Kiewer Marionettenregimes". In Bezug auf den ukrainischen Präsidenten Selenskyj sagte Dolgov: "Terroristen müssen unmissverständlich behandelt werden!"
- Vladimir Solovyov, Journalist im russischen Staatsfernsehen, schrieb auf Telegram: "Es ist Zeit zu reagieren. In jeglicher Form." Die Ukraine müsse "in dunkle Zeiten getaucht werden" und forderte Russland auf, Brücken, Dämme, Eisenbahnen und andere Infrastruktur in der Ukraine zerstören.
Nach einer Reihe von militärischen Rückschlägen war die Kritik selbst unter kremltreuen Kriegsbefürwortern gewachsen. Seit dem Rückzug aus dem Nordosten der Region Charkiw, dem Verlust der strategisch wichtigen Stadt Lyman und den ukrainischen Vorstößen in der Region Cherson wähnen sie den russischen Feldzug offenbar in einer personellen wie operativen Krise.
Präsident Putin kommt den Rufen nach einer weiteren Brutalisierung des Kriegsgeschehens nun offenkundig nach, um den Unmut unter seinen Unterstützern zu adressieren:
Inmitten der militärischen Misserfolge wurde Ramsan Kadyrow zum Generaloberst befördert, den dritthöchsten Dienstgrad der Kreml-Armee. Der berüchtigte Tschetschenenführer, der sich gern als Putins "Bluthund" inszeniert, tat sich seit dem russischen Einmarsch als einer der glühendsten Kriegsbefürworter hervor. Nach den jüngsten russischen Niederlagen hatte er jedoch scharfe Kritik geübt, unter anderem an der militärischen Führung, und weitreichende Konsequenzen gefordert.
Nur Stunden nach der Explosion auf der Krim-Brücke wurde Sergej Surowikin als neuer Kriegschef des Kreml eingesetzt. Der erfahrene Kommandeur leitete 2017 die russische Militärexpedition in Syrien, wo ihm vorgeworfen wurde, "umstrittene" Taktiken angewendet zu haben, darunter wahllose Bombenangriffe auf regierungsfeindliche Kämpfer.
Und nun das breitflächige Bombardement, das offenbar auch auf kritische Infrastruktur zielt. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Selenskyj richteten sich die Angriffe vor allem gegen die Energie-Infrastruktur. Ein Teil der westukrainischen Großstadt Lwiw sei nach dem Beschuss ohne Strom, teilte Bürgermeister Andrej Sadowyj mit.
Nach offiziellen Angaben aus Kiew soll Russland am Montag 75 Raketen auf verschiedene Städte in dem überfallenen Land abgefeuert haben. 41 davon habe die ukrainische Luftabwehr abgeschossen, teilte der Berater des ukrainischen Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, mit. Russland zeige damit nach zahlreichen Niederlagen in seinem Krieg gegen die Ukraine, dass es am Ende sei. "Das sind die Todeszuckungen eines verwundeten Tieres", sagte er.
Quellen: "New York Times", "Politico", "The Guardian", mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP