Mit Superlativen soll man vorsichtig umgehen. Trotzdem: Was an diesem Dienstag, den 24. Januar 2017, passiert ist, atmet etwas Historisches. Sigmar Gabriels Rückzug vom SPD-Vorsitz und sein Verzicht auf die Kanzlerkandidatur wirken wie ein Beben. Und zwar wie eines, das mehr erschüttert als den ja nicht mehr ganz so riesigen sozialdemokratischen Kosmos. Vielleicht ist dieses Beben sogar heftig genug, Angela Merkels bislang unausweichlich erscheinenden Wahlsieg noch zu gefährden und die "Schwermut der Großen Koalition" (Gabriel) zu beenden.
Wer schon immer gewusst hat, dass Sigmar Gabriel unberechenbar ist, im Guten wie im Bösen – bitte, hier ist der letztgültige Beweis. Gabriel geht, wenn auch nicht so ganz – und er geht zu einem Zeitpunkt, da sich fast alle mit seiner als aussichtslos eingestuften Kanzlerkandidatur abgefunden hatten. In einem Akt der (Selbst-)Befreiung legt er die Kandidatur seinem Freund Martin Schulz, der manchen Genossen als eine Art Heilsbringer erscheint, zu Füßen – samt dem Parteivorsitz. Das ist die eigentliche Sensation, mit der niemand gerechnet hatte.
Und es ist eine Volte, die es selbst in dieser an Verrücktheiten gewohnten SPD so noch nicht gegeben hat. Vergleichbar vielleicht noch mit der 2005 einsam zwischen Gerhard Schröder und Franz Müntefering getroffenen Entscheidung, vorgezogene Neuwahlen auszurufen. (Nur so nebenbei: Es war eine aus der Not geborene Entscheidung, die viele für selbstmörderisch hielten, die aber beinahe ein überraschend gutes Ende gefunden und in einem SPD-Wahlsieg gemündet hätte. Aber eben nur beinahe.)
Der Alleingang Sigmar Gabriels
Öffentlichkeit wie Partei erlebten nun noch einmal einen Alleingang Gabriels. Und was für einen. Die Aktion hat etwas Parteistreichartiges. Nur dass diese Revolution von ganz oben kommt, und der Chefrevoluzzer ganz auf Kombattanten verzichtet hat. Sigmar Gabriel hat in der Manier eines Paten die ganze, große Rochade in Partei und Regierung allein ersonnen und weitgehend mit sich ausgemacht. Und er hat die wenigen anderen, die in der SPD etwas zu sagen haben – Hannelore Kraft, Olaf Scholz, Martin Schulz – offenbar erst kurz vor knapp informiert und eingebunden. Es war, wenn man so will, eine letzte Demonstration der Stärke Gabriels, die zugleich sehr viel über die Schwäche seiner Gegner sagt. Weite Teile der SPD hätten einen Kandidaten Gabriel mehr erduldet als unterstützt. Den Mumm, den Parteivorsitzenden zu stürzen, aber hatte niemand. Sie müssen nun ertragen, dass ihnen Gabriel die Entscheidungen und Bedingungen diktierte. Und Olaf Scholz, der heimliche starke Mann hinter Gabriel, muss sich nun weiterhin einreihen. Nun hinter Martin Schulz.
Welch bunter Hund Gabriel allerdings dabei geritten haben mag, nun ausgerechnet ins Außenamt zu wechseln? Diplomatie hat er jedenfalls auf der Politikerakademie nur als drittes Wahlfach belegt – und meistens geschwänzt. Womöglich ist aber genau das sein Kalkül. Ein Gabriel als Außenminister kann sich in Wahlkampfzeiten deutlich stärker von der Kanzlerin absetzen als sein meist graumeliert formulierender Vorgänger Steinmeier es qua Naturell und rhetorischer Wucht vermocht hätte. Kontroverse Themen gibt es genug – von Russland bis hin zum gespaltenen Europa. Und einen Fehler sollte die Nach-Gabriel-SPD nicht machen: auf den Wahlkämpfer Gabriel zu verzichten. Einen besseren hat sie nicht.
Gabriel lässt seinen großen Traum platzen
Keineswegs nur nebenbei: Es ist auch Zeit, Abbitte zu leisten bei Sigmar Gabriel. Viele hatten ihm unterstellt, er werde die Kandidatur auf sich nehmen, um den SPD-Vorsitz behalten zu können. An dem hängt er tatsächlich. Gabriel wollte nie wirklich Kanzler werden, das "mönchische Leben", das einem das Amt abverlangt, gruselt ihn. Aber SPD-Chef zu sein, Erster in dieser traditionsreichen Partei, Nachfolger Bebels und Brandts – das war sein großer Traum. Gabriel liebt diese SPD, trotz allem. Und es ist ein großer Verzicht, dass er sich aus diesem Traum nun mehr oder weniger freiwillig verabschiedet. Warum? Vielleicht aus einem Antrieb heraus, den man ihm so nicht ohne weiteres unterstellt hätte: Selbstlosigkeit. Sein Ziel sei es, wieder einen Sozialdemokraten ins Kanzleramt zu bringen, hat Gabriel gesagt, nachdem er an die SPD-Spitze gewählt worden war. Diesem Ziel hat er sich nun selbst geopfert. Vielleicht hat er sich auch nur wund- und abgerieben an seiner SPD, die ihn nie so ins Herz geschlossen hat wie er sie, obwohl kein Vorsitzender seit Willy Brandt so lange amtiert hat. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem. Welcher Anteil überwiegt, weiß Gabriel allein.
Wer ihn etwas besser kennt, wird allerdings ahnen, wie diebisch er sich darüber freut, zum Schluss noch einmal einen solchen Coup gelandet zu haben. Dass er geschafft hat, was ihm niemand zugetraut hätte – und was Angela Merkel nicht gelungen ist: rechtzeitig aufzuhören. Einen überraschenden Schlusspunkt zu setzen.
SPD-Ausgangslage bleibt bescheiden
Eines bleibt aber auch nach diesem historischen Dienstag, den 24. Januar 2017, nach diesem Beben wahr: Die Ausgangslage der SPD ist immer noch bescheiden. Sie ist – bis auf Weiteres – jene Partei, der die Wähler ums Verrecken nicht angemessen dafür danken wollen, was sie in der Regierung erreicht hat; die keinen Grund sehen, warum sie ihr die Verantwortung für das Land geben sollen.
Martin Schulz, mindestens so empfindlich wie sein Kumpel Sigmar, ohne administrative Erfahrung, an den rauen Berliner Wind nicht gewohnt – dieser Martin Schulz muss den Wählern jetzt diesen Grund liefern. "Wenn wir einen Kandidaten aufstellen, den die Bürgerinnen und Bürger als Kanzler wollen, wirkt sich das bei Wahlen aus, das gibt schnell zehn Prozentpunkte obendrauf", hat Olaf Scholz vor nicht allzu langer Zeit gesagt. Das ist die – wirkliche – Messlatte für Schulz. Reißt er sie deutlich, kann er sich in die S-Klasse der Sozialdemokratie einreihen, in die Klasse der grandios Gescheiterten: Scharping, Steinmeier, Steinbrück…
Diese Schicksal hat Sigmar Gabriel sich erspart. Er hat es mit seiner Aktion Arrividerci im Gegenteil geschafft, nicht Schuld daran zu sein, wenn es 2017 doch wieder nicht klappen sollte bei der Wahl. Mehr konnte er nicht mehr erreichen. In die Geschichte wird er trotzdem eingehen: als der talentierteste sozialdemokratische Spitzenpolitiker, der nie Kanzlerkandidat wurde.
