Die Szene ist bezeichnend für die Ratlosigkeit, die in der Europapolitik vorherrscht: Eigentlich hat der Außenminister alle seine Botschafter nach Berlin geladen, um vor allem über den anstehenden deutschen EU-Vorsitz zu diskutieren. Aber dann spricht Frank-Walter Steinmeier an diesem Vormittag erst einmal über alles andere: Über die Reformen im Inland, über den Libanon, den Iran, die große Bühne. Erst nach 45 Minuten wagt er sich kurz an die EU heran. Man wolle sich während des Vorsitzes um die EU-Nachbarschaftspolitik kümmern, sagt er. Um die östlichen Nachbarn. Um Russland. Um Energiefragen. Vielleicht auch um Zentralasien. Das klingt noch entschlossen.
Aber dann muss Steinmeier das verflixte Verfassungsthema umschleichen. Man wisse ja, sagt der deutsche Außenminister, dass man die EU-Verfassung wieder in Schwung bringen müsse. Ohne die Verfassung sei das Projekt einer "vertieften Integration" gefährdet. Es erscheint, als komme nun etwas. Ein Plan. Eine Vision. Eine Vorgabe. Mitnichten. Wie das mit der Verfassung genau gelingen könne, sagt Steinmeier, das sei eben eine schwierige Frage - und deshalb, so leitet er geschwind über, solle man doch Jean-Claude Juncker lauschen, dem Premier aus Luxemburg.
"Jean-Claude", sagt Steinmeier, "nun erwarten wir von Dir einen Königsweg."
Dünne Aussagen zu den Plänen der Deutschen
Steinmeiers wohlfeile Zurückhaltung, seine zur Schau gestellte Ratlosigkeit, mag Absicht sein. Als EU-Ratsvorsitzender soll er ab Januar 2007 sechs Monate lang vermitteln, nicht spalten. Da mag es klug sein, dass er sich mit Vorschlägen nicht schon jetzt zu weit aus dem Fenster lehnt. Vielleicht will er auch die Hoffnungen darauf dämpfen, dass die mächtigen Deutschen die EU aus jener Krise führen können, in der sie seit den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden dümpelt. Und dennoch ist es sehr, sehr dünn, zu dünn, was der Außenminister seinen Botschaftern zu Europa zu sagen hat bei ihrem Klassentreffen, das intern schon gerne mal als "Pinguin-Party" tituliert wird - eine Anspielung auf ein antiquiertes Image, das Botschafter als fracktragende Cocktail-Trinker zeichnet.
Steinmeiers Schweigen legt die Vermutung nah, dass man weder im Auswärtigen Amt am Werderschen Markt noch im Kanzleramt derzeit so richtig weiß, wie man mit dieser vermaledeiten Verfassung umgehen soll. Franzosen und Niederländer wählen erst im Mai nächsten Jahres. Bis dahin, so scheint es, droht die EU weiter im Stillstand zu verharren, mit oder ohne deutschen Vorsitz.
"Wir sind intern in einer Krise"
Richtig Schwung in die Party bringt erst Juncker, der ebenso wie Frankreichs Außenminister Philippe Douste-Blazy zur Eröffnung der viertägigen Veranstaltung nach Berlin gekommen ist. Augenzwinkernd scherzt er, er könne den Königsweg nun leider nicht erläutern, weil Steinmeier einfach zu lange geredet habe. Ein wenig gallig witzelt er darüber, dass es schon bemerkenswert sei, dass er als Luxemburger nun dazu aufgefordert worden sei, die deutsche Ratspräsidentschaft mit Inhalt zu füllen. Nach dieser humoristisch verkleideten Generalkritik findet Juncker klare Worte. "Wir sind intern in einer Krise", sagt er. "Deshalb kommt auf die deutsche Ratspräsidentschaft eine große Verantwortung zu. Es muss Aufgabe des deutschen Ratsvorsitzes sein, ein Plädoyer für die europäische Einigung zu halten"
Juncker dringt auf stärkere Auseinandersetzung mit Kritikern
Juncker sagt, das Problem Europas sei, dass die Bevölkerung gespalten sei. "Die Hälfte der Bevölkerung will mehr Europa, die andere Hälfte denkt, dass wir heute schon zu viel Europa haben." Diesem Problem müsse sich die Politik stellen, etwa indem sie stärker auf die Kritiker eingehe. "Man muss sich mit den Gegenstimmen zu Europa stärker auseinandersetzen, als wir das in der Vergangenheit getan haben", sagt Juncker. Man müsse etwa darüber nachdenken, ob und unter welchen Umständen die EU neue Mitglieder aufnehmen könne. Der Luxemburger spricht von einem "Europa der Resultate", das aber auch tatsächlich Leistungen erbringen müsse. Steinmeier spielt während dieser Worte scheinbar gelangweilt mit dem schwarzen Kabel seiner Übersetzungsgeräts.
DGB-Chef fordert neuen Verfassungsentwurf
Die Verfassung ist eine knifflige Angelegenheit. Es gibt viele Begehrlichkeiten. Die einen, wie etwa Briten oder auch Niederländer, würden das ganze Projekt am liebsten komplett knicken. Andere wollen erheblich nachbessern, vor allem, was die soziale Dimension betrifft. Erst in der vergangenen Woche wurde bekannt, dass DGB-Chef Michael Sommer einen Brief an Kanzlerin Angela Merkel geschrieben hat, in der er auf einen neuen, diesmal sozialeren Verfassungsentwurf dringt.

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"So viel zum Königsweg"
Genau solchen Absichten erteilt Juncker eine Abfuhr. Wenn man das gesamte Verfassungs-Paket jetzt noch einmal aufschnüre, sagte er, würden die Verhandlungen noch einmal 15 Jahre dauern. Das sei keine Lösung. Es sei allerdings auch keine Lösung, den jetzigen Vertrag einfach noch einmal Franzosen und Niederländern zur Abstimmung vorzulegen. Eine Lösung konnte auch er nicht anbieten. "So viel zum Königsweg", schließt er seinen Vortrag ironisch.
Juncker kann sich diese Ironie leisten. Er ist es nicht, der ab Januar 2007 den Vorsitz übernehmen muss.