Beim zweiten Mal, so heißt es im Rheinland, ist es schon Tradition. In dieser Hinsicht reist der unweit von Köln aufgewachsene Christian Lindner traditionell mit ordentlich Landtagswahlfrust und Ampelärger zur Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Vergangenes Jahr waren seine Liberalen gerade in Niedersachsen aus dem Parlament geflogen, mit SPD und Grünen stritt man über Atomkraft.
In dieser Woche wiederum muss der FDP-Chef nach Bayern und Hessen ein katastrophales und ein gerade so ausreichendes Wahlergebnis verkraften. Die Ampel zerlegt sich inzwischen bei so vielen Fragen, dass man den Anschluss verliert. Und in jüngsten Umfragen liegt die FDP bundesweit bei fünf Prozent.
Da könnte ein bisschen Aufmunterung von den Finanzministerkolleginnen und Ökonomen aus aller Welt nicht schaden, oder?
Marrakesch, Donnerstagvormittag. Lindner hat auf einem Podium Platz genommen, es ist sein erster Termin hier. Er lehnt sich zurück, hört erst einmal zu, was die anderen Diskutanten zu sagen haben. Irgendwann stellt der Moderator fest: "Das ist eine wirklich schlechte Zeit, um Finanzminister zu sein. Die schlechteste Zeit seit vielen Jahrzehnten." Und Linders ägyptischer Amtskollege sagt: "Finanzminister müssten Beileidsbekundungen bekommen."
Klingt nicht nach Aufmunterung.
Lindner und die giftige Kombination
Nein, die Lage der Weltwirtschaft bleibt ernst. "Rekordhohe Schuldenstände, steigende Zinsen und geringes Wachstum – das ist eine giftige Kombination", sagt Gita Gopinath, die Vize-Chefin des IWF, die auch mit Lindner auf dem Podium sitzt.
Was daran giftig ist, lässt sich in etwa so beschreiben: Anders als zum Ende der Coronapandemie angenommen wachsen weltweit die Schuldenstände. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Energiepreise in die Höhe schießen lassen – und damit die Inflation getrieben. Um die zu bekämpfen, haben die Notenbanken Schritt für Schritt die Zinsen angehoben. Was wiederum dazu führt, dass Staaten immer mehr Geld aus ihrem Haushalt aufwenden müssen, um die Schulden zu bedienen. Was die finanziellen Spielräume von Regierungen ausgerechnet in einer Zeit existenzieller Krisen einschränkt, in der viel Geld in die grüne Transformation, digitale Infrastruktur und wehrhafte Armeen investiert werden muss. Da sind neue Schulden verlockend bis unumgänglich. Was wiederum…
Wirklich eine richtig schlechte Zeit, um Finanzminister zu sein. Zusätzlich erschwert wird die Situation, wenn man eben mit SPD und Grünen regieren muss, die weitere Kredite nicht ausschließen wollen und Steuererhöhungen fordern – man selbst aber genau diese zwei roten Linien gezogen hat: Schuldenbremse einhalten, keine höheren Steuern.

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Deutschland ist die Ausnahme
Nur, wie sonst finanziert man Jahrhundertinvestitionen gegen die Klimakrise? Das ist eine der zentralen Fragen bei der IWF-Tagung. "Boosting Growth with Domestic Resources: How to Pay for It All", lautet der Titel der Diskussion mit Lindner. Im Rheinland, dieser letzte Schlenker sei erlaubt, würde man das in Anlehnung an einen Karnevalsklassiker von Jupp Schmitz so übersetzen: Wer soll das bezahlen? Wer hat so viel Pinkepinke?
Lindner lobt er erst einmal den eigenen Kurs. Auf der ganzen Welt steigen die Schuldenstände? Nein, nicht in Deutschland. Ursprünglich hatte die Bundesregierung für dieses Jahr mit einem Defizit von vier Prozent gerechnet. Nun seien unter 2,5 Prozent möglich, sagt Lindner. Der deutsche Schuldenstand könnte Ende des Jahres sogar auf unter 65 Prozent der Wirtschaftsleistung sinken. Das liegt nahe an der 60-Prozent-Grenze der EU. Kurzer Vergleich: Frankreich liegt derzeit bei 112 Prozent, Italien gar jenseits von 140 Prozent.
Von seinen Koalitionspartnern in der Ampel darf sich Lindner regelmäßig anhören, dass sich solch schöne Zahlen wenig wert sind, wenn Klimaziele gerissen werden, Schulen zerbröseln, es zu wenig Kitaplätze und nur selten pünktliche Züge gibt. Beim IWF aber empfehlen sie schon länger in ihren Berichten, was Lindner seinen Wählern versprochen hat: solide Staatsfinanzen.
Man könnte sich gut vorstellen, wie Lindner beim nächsten Streit um den Haushalt seinem grünen Kabinettskollegen Robert Habeck vorschlägt: Robert, komm doch mal mit zum IWF, die sehen das mit den Schulden da alle so wie ich!
Der Streber mit der roten Laterne
Der deutsche Finanzminister darf sich zwischen den schlechten Zahlen seiner Amtskollegen mit seiner "moderat restriktiven Finanzpolitik" bestätigt sehen. Das "Handelsblatt" adelt ihn als "Schulden-Streber". In Marrakesch präsentiert Lindner Deutschland als Musterknaben der Weltwirtschaft. Das Problem nur: Der Knabe wächst nicht mehr. Deutschland ist das einzige Industrieland der Welt, in dem die Wirtschaft in diesem Jahr sogar schrumpft.
Ein Streber mit der roten Laterne. Wie lange kann das gut gehen?
Freitagmorgen, zehn vor acht. Linder hat die Presse zum Frühstück geladen. Neben ihm sitzt Bundesbankpräsident Joachim Nagel. Sie loben sich gegenseitig, Hand in Hand die Inflation zu bekämpfen, auch das inzwischen eine Tradition beim IWF-Treffen. "Wir haben den Höhepunkt der Inflation wohl überwunden", sagt Nagel. Unklar sei aber, wie schnell sie zurückgeht und die Zielmarke von zwei Prozent erreicht.
Das war nicht die einzige gute Nachricht. Er sei ja oft gefragt worden, sagt Lindner, ob hier beim IWF denn nun alle besorgt seien über die deutsche Wachstumsschwäche. Ob man sich auch hier das "kranker Mann Europas"-Narrativ erzähle? "Nein, das erreicht uns so nicht."
Lindners Antwort auf die Jupp-Schmitz-Frage
Eine neue Botschaft hat der Finanzminister nicht mit nach Marokko gebracht. Lindner setzt, wie es so schön heißt, auf angebotsseitige Maßnahmen. Er will Bürokratie abbauen, Unternehmen entlasten, mehr geduldete Geflüchtete in Arbeit bringen. Er kann seine zwei wichtigsten Gesetze auf Englisch vorstellen. Was er sagt, deckt sich auch in puncto Wachstumspolitik mit den Empfehlungen des IWF. Aber die sind ohnehin so allgemein formuliert, dass sie auch Robert Habeck gefallen müssten.
Linders Antwort auf die Jupp-Schmitz-Frage: Der Staat verbessert Strukturen, dann zahlen private Investoren gerne.
Er liebe seinen Job, hatte Lindner am Tag zuvor auf dem Podium gesagt. "Aber ich ziehe es vor, das Richtige zu tun, als wiedergewählt zu werden." Man darf davon ausgehen, dass ihn die zweieinhalb Tage als Musterknabe in Marrakesch darin nur noch bestärken. Er wolle, sagt Lindner, diesen richtigen Weg "noch entschiedener und noch schneller gehen".
Was das für die Ampel bedeutet? Vermutlich wird auch im kommenden Jahr ein von Landtagswahlen und Ampelstreit gefrusteter Bundesfinanzminister zur Jahrestagung des IWF reisen. Zum dritten Mal. Im Rheinland nennt man das dann Brauchtum.