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Politik in Krisenzeiten Weniger Opposition war wohl nie: Wie die Parteien in der Corona-Krise um Gehör kämpfen

Die (Co-)Fraktionsvorsitzenden in der Opposition
Die (Co-)Fraktionsvorsitzenden in der Opposition, von links oben im Uhrzeigersinn: Christian Lindner (FDP), Alexander Gauland (AfD), Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) und Dietmar Bartsch (Die Linke)
© Bernd von Jutrczenka/Kay Nietfeld/Odd Andersen/Christophe Gateau / DPA / AFP / Picture Alliance
Die Große Koalition steht am Steuer und lenkt durch die Corona-Krise, die Oppositionsparteien geraten in den Hintergrund und versuchen sich Gehör zu verschaffen. Gar nicht so einfach. 

Kein großes Gezanke, kaum vernehmbarer Streit, wenig Gegenrede – es ist Ende März 2020 und in Berlin ist man sich, so der Eindruck: vor allem einig. Einig darüber, dass die außergewöhnliche Situation auch außergewöhnliche Maßnahmen erfordert. Und dass Einigkeit das Gebot der Stunde ist.  

Am Mittwoch, bei einer wohl bislang beispiellosen Sitzung im Bundestag, ließen sich dann solche Szenen beobachten:

Der Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus bedankte sich bei der Opposition für ihr Entgegenkommen, das "nicht selbstverständlich" sei. Die Opposition, hier Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, lobte ein "wirklich konstruktives Miteinander". Und sogar AfD-Co-Fraktionschef Alexander Gauland beschwor Teamgeist: "Zusammenstehen ist jetzt erste Bürgerpflicht. Deshalb werden wir weitgehend zustimmen".

Kurzum: Die 154. Sitzung des Parlaments stand ganz im Zeichen von Eile und Einigkeit, um die "Bazooka" (Bundesfinanzminister Olaf Scholz) in Stellung zu bringen: ein Milliarden-Hilfspaket von historischem Ausmaß. Bumm, Bravo.  

Das Land ist im Ausnahmezustand, die Politik auch. Es schlägt die Stunde der Exekutive, wie es so schön anpackend heißt. Am Steuer stehen und lenken: Union und SPD. Die Große Koalition im Krisenmanager-Modus. Kommt beim Wähler offenbar an: Vor allem die Union legt in Umfragen zu, ein bisschen auch die SPD. Die beliebtesten Politiker des Landes kommen derzeit aus CDU und CSU

Nicht einfach für die Opposition. AfD, Grüne, Linke und FDP müssen darum kämpfen, sich noch Gehör zu verschaffen und im Hintergrund mitzuhalten. 

Grüne: Aus den Schlagzeilen an die Seitenlinie

Die Koalitionsparteien gewinnen auf Kosten der Opposition – und da fallen vor allem die Grünen ins Auge. In zwei von drei Umfragen am vergangenen Wochenende sind sie unter die 20-Prozent-Marke gerutscht. Wenn man bedenkt, dass sie 2017 mit 8,9 Prozent als kleinste Fraktion in den Bundestag einzogen, sind 17 bis 19 Prozent immer noch sehr viel – aber die Erwartung an die Grünen ist längst eine andere. Da ging es in den vergangenen Monaten um die Kanzlerkandidatur einer gefühlten Fast-schon-Regierungspartei, die sich auch selbst gern so staatstragend präsentiert, als säße sie schon mit am Kabinettstisch. 

Nun müssen die Grünen im Bund weitgehend von der Seitenlinie zuschauen. Sie zeigen sich dabei betont konstruktiv, loben Merkel und die Zusammenarbeit mit den Regierungsfraktionen, tragen Koalitionsbeschlüsse im Bundestag mit. "Jetzt ist die Stunde der Exekutive", sagt auch Jürgen Trittin, der ehemalige Bundesminister – und betont demonstrativ, dass die Grünen in elf Bundesländern mitregieren. In Baden-Württemberg stellen sie sogar den Ministerpräsidenten. Aber nirgends etwa einen Innenminister, der nun über Kontaktverbote für den Gesundheitsschutz wachen würde.

Der Grünen-Markenkern Klimaschutz, der monatelang die Politik dominierte, ist plötzlich ein Randthema. Interessiert die Klimakrise, wenn es um Kurzarbeit, Jobverlust, Existenzangst geht? Eher weniger. Um sich breiter aufzustellen, arbeiten die Grünen seit langem an ihrem wirtschaftspolitischen Image – Ex-Parteichef Cem Özdemir legte vor, die Doppelspitze Robert Habeck und Annalena Baerbock macht weiter. In der Sozialpolitik ebenso. Ob sich das auszahlt, muss sich nun zeigen.

AfD: K(r)ampf um Aufmerksamkeit

Bei aller Konstruktivität, die die größte Oppositionspartei derzeit an den Tag legen will: Die AfD kämpft sichtlich darum, Gehör zu finden. 

Weder verfängt sie mit ihrem Politik-Stil – Spalten und Provozieren –, noch kann sie der durchgreifenden Regierung das oft beschworene "Staatsversagen" glaubhaft vorwerfen. Allein: Am Mittwoch stimmte ihre Fraktion im Bundestag für die Beschlüsse der Regierung oder enthielt sich. Auch das Thema Flüchtlinge kann die Partei während der Corona-Pandemie nicht politisch instrumentalisieren – auch, wenn Co-Parteichef Jörg Meuthen unlängst eine "Einreisesperre auch für Asylbewerber" forderte. Der "Fünf-Punkte-Programm zur Corona-Krisenbewältigung" von Co-Parteichef Tino Chrupalla und Co-Fraktionschefin Alice Weidel ging in den Schlagzeilen ebenso unter.

Währenddessen gaben einige AfD-Politiker keine gute Figur in der Krise ab. So polemisierte etwa der Berliner Landes- und Fraktionsvorsitzende Georg Pazderski, der wie US-Präsident Donald Trump von einem "China-Virus" redet, im Kontext der Pandemie gegen Jugendliche. Er verbreitete ein Video, das Teenager beim reihenweisen Ablecken eines Lutschers zeigt, und wetterte gegen "Empathielose, dumme Wohlstandskinder, die freitags bei #FFF ("Fridays for Future", Anm. d. Red.) auf der Straße hüpfen" und keine Rücksicht auf Ältere nehmen würden.

Der Haken: Das Video ist eine Internet-Challenge ("Lolli Challenge"), stammt nicht aus Deutschland, ist mehrere Monate alt und die Klimaschutzbewegung hat längst alle Demonstrationen aus Rücksicht auf Ältere abgesagt. Der Tweet wurde gelöscht, aber im Netz archiviert

Nach heftiger Kritik verschwand auch ein geschmackloser Tweet von Andreas Winhart, AfD-Landespolitiker in Bayern und Mitglied des Gesundheitsausschusses, der die Quarantäne von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) so kommentierte: "Merkel in Quarantäne! Gut, aber hinter Gittern wäre besser, aber ist ja schon mal ein Anfang". In Sachsen musste sich die AfD-Fraktion den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit gefallen lassen, nachdem sie eine Sitzung des Landtags erzwang, obwohl die anderen Fraktionen dagegen waren. 

Und so kann auch die AfD mit den aktuellen Umfragen nicht zufrieden sein: Die Rechtspopulisten fahren darin mitunter einstellige Ergebnisse ein.

Die Linke: "Erstaunt" 

Was Die Linke derzeit fühlen dürfte, hat ihr Fraktionschef Dietmar Bartsch in der "Süddeutschen Zeitung" ausbuchstabiert, wenn auch sehr diplomatisch: "Ich nehme erstaunt zur Kenntnis, dass politisch plötzlich Dinge möglich sind, die wir lange fordern und für die wir vor wenigen Wochen noch als die unseriösen Linken, die nur Geld ausgeben wollen, abgetan worden wären."

Tatsache: Manche Maßnahmen der Bundesregierung – ob starker Staat oder die Abkehr von der schwarzen Null – will die Linke seit Jahren. Kommt nun allerdings von Union und SPD, der Credit gebührt ihnen. Während die Linke Prozentpunkte von sich preisgibt.   

Aber Fraktionschef Bartsch glaubt: "Die Aufgaben der Opposition werden nicht kleiner sein nach diesem außerordentlichen Kraftakt", sagte er der "Süddeutschen Zeitung". Er dürfte Recht behalten. 

Christian Lindner im ntv-Frühstart

Denn, auch Tatsache: Durch die Corona-Pandemie steht die Wirtschaft unter einem Stresstest, die sogenannten Wirtschaftsweisen rechnen mit einer Rezession – nicht alle Arbeitsplätze, besonders in der Mittelschicht, dürften gerettet werden können. Dort setzt die Linke an, um Wählerinnen und Wähler wieder in ihre Arme zu treiben. So dringt die Linkspartei etwa auf eine einmalige Vermögensabgabe für Superreiche, um die Lasten der Corona-Krise gerechter zu verteilen. Zudem fordert sie einen steuerfreien Bonus von je 500 Euro monatlich für Pflegekräfte. Die Kosten der Krise dürften nicht von denen bezahlt werden, "die ohnehin am wenigsten haben", sagte Parteichef Bernd Riexinger.

FDP: Die Exit-Strategen

Ja, ein zynischer Gedanke. Wahr ist er trotzdem: Der "Tabubruch von Thüringen" ist durch die Pandemie in Vergessenheit geraten – in der FDP dürfte man sich über diesen Umstand nicht beschweren. In der Corona-Krise konzentriert sich die Partei nun auf ihr Produktversprechen, das durch das Thü-Ringen in Mitleidenschaft gezogen wurde: die Liberalität. 

"Der jetzige Zustand darf keinen Tag länger dauern, als es medizinisch geboten ist" – sagte Christian Linder, Partei- und Fraktionschef, den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Die FDP will Anwalt der bürgerlichen Mitte sein und fordert eine klare Strategie für die Rückkehr zur Normalität nach Abflauen der Corona-Krise. "Gegenwärtig gibt es eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung für die Freiheitseinschränkungen", sagte Lindner am Montag in Berlin. Versehen mit einem Wink in Richtung GroKo: "Eine klare geschlossene Kommunikation der Regierung und das Signal, dass man wirklich alles unternimmt, um schnellstmöglich zur Normalität zurückzukehren, könnte diese Akzeptanz länger erhalten." Aber, klar: "Uns geht es jetzt nicht um Termine." 

Und, natürlich, will die FDP auch an Markt und Wirtschaft ein klares Signal senden. So kritisierte der Parteichef etwa die Fördergrenze für kleine Unternehmen in der Corona-Krise als zu niedrig und mahnte mit Blick auf die Maßnahmen der Bundesregierung weniger Bürokratie an.

Quellen:"Der Spiegel", "Süddeutsche Zeitung", "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Focus", "AfD Kompakt", "Tagesschau", "Sächsische Zeitung", "Welt", Funke Mediengruppe, mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP

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