Der Krieg ist hier immer präsent. Auf den Straßen, in den Familien, in der Regierung. Montagmittag in Jerusalem: Friedrich Merz sitzt mit Benjamin Netanjahu zusammen. Israels Ministerpräsident ist müde.
Bis nachts um drei Uhr hat Netanjahu eine Spezialoperation seiner Armee verfolgt, um zwei Geiseln aus dem südlichen Gazastreifen zu befreien. Die Kommandoaktion gelingt. Aber wie geht der Krieg gegen die Hamas weiter? Wie geht er aus? Was kommt danach? Alle, die Netanjahu dieser Tage besuchen, stellen gerade diese Fragen. Merz auch.
Mitten im vertraulichen Gespräch mit dem CDU-Vorsitzenden, so schildern es Eingeweihte, kommt ein Mitarbeiter Netanjahus in den Raum, überreicht dem Regierungschef einen Zettel. Netanjahu liest ihn, nickt dann stumm seinen Leuten zu. Fünf israelische Soldaten sind an der Front gestorben. Schlimme Nachrichten, mal wieder.
Zwei volle Tage ist Merz in Israel, und wie verwundet, wie traumatisiert das Land ist, wird bei fast all seinen Terminen klar. Israel leidet an den Folgen des Terrorangriffs vom 7. Oktober, kämpft seitdem einen zermürbenden Krieg gegen die Hamas. Netanjahu will die Terrororganisation auslöschen, plant einen neuen Großangriff im Süden des Gazastreifens, um die verbliebenen Strukturen der Miliz zu zerstören. Aber je länger der Krieg dauert, desto mehr internationale Partner gehen auf Abstand zu Netanjahus Kurs.
Zu groß scheinen die zivilen Opferzahlen, zu sehr wachsen die Zweifel, ob der militärische Ansatz Israels wirklich der richtige ist und Netanjahu den Krieg nur so führt, um sein politisches Leben zu verlängern.
Merz neigt zu uneingeschränkter Solidarität
Auch Merz sieht das Leid in Gaza, die humanitäre Lage, die vielen zivilen Opfer der israelischen Angriffe. Und glaubt man seinen Leuten, spricht er das bei Netanjahu hinter verschlossenen Türen auch an. Öffentlich meidet Merz jede Kritik an Israel, stellt sich entschieden an die Seite Netanjahus. "Wir stützen die israelische Regierung in ihrem Kampf gegen den Terror", sagt der Christdemokrat, was ein wenig an die "uneingeschränkte Solidarität" erinnert, die einst ein Sozialdemokrat den USA versprach: Gerhard Schröder nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.
Angesichts der teils dramatischen Lage in Gaza wirkt Merz auffallend einseitig. In Israel will der Oppositionschef keine Aufregung produzieren, nicht in Lehrmeister-Verdacht geraten. Er geht den leichten Weg – kompliziert ist der Besuch auch so schon.

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Für Politiker, die Kanzler werden wollen, sind Auslandsreisen riskante Unterfangen, weil man schnell ungeduldig wirkt, leicht der Eindruck entstehen kann, als ginge es vor allem darum, auf der Weltbühne schon mal ein bisschen Regierungschef zu spielen. Merz testet in dieser Hinsicht gerade gewisse Grenzen, er ist in diesen Wochen viel unterwegs.
Warum Merz vorerst nicht in die USA reist
Vor Weihnachten traf er sich mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Paris. Im Januar reiste er nach Finnland und Schweden. Bald soll ein Trip nach London folgen, und eigentlich würde er gerne auch noch in die USA. Aber ihm ist noch in Erinnerung, wie verloren Olaf Scholz als Kanzlerkandidat mal in Washington herumstand, als die Vizepräsidentin aus Zeitgründen einen Termin kurzfristig strich. Solche Bilder braucht Merz nicht.
In Israel wird er fast wie ein Staatsgast empfangen. Neben Netanjahu trifft er den Außen- und den Verteidigungsminister, der Sprecher der Knesset hat ihn eingeladen, auch Staatspräsident Jitzchak Herzog. Ein wenig kurios sind die Spitzentermine schon, gemessen daran, dass Merz‘ Bedeutung für Israel eher überschaubar ist. Aber die Israelis, so sehen es seine Leute, seien eben weitsichtig, hätten die deutsche Innenpolitik und die Probleme von Olaf Scholz gut im Blick.
Termine als Zukunftsinvestment. Im Ernst? Sieht Israel in Merz den nächsten Kanzler?
Mag sein. Aber vielleicht ist auch alles banaler, vielleicht tut es der israelischen Regierung einfach mal gut, mit jemandem zu sprechen, der überhaupt noch ihre Sicht teilt. Die Stimmung gegenüber Israel ist international dramatisch gekippt, selbst enge westliche Partner gehen auf großen Abstand zu Netanjahus Ansatz. Joe Biden, der US-Präsident, drängt ihn zu mehr Rücksicht, will einen Waffenstillstand und neue Verhandlungen mit der Hamas. Die deutsche Außenministerin warnt vor einer humanitären Katastrophe in Gaza. Merz warnt nicht, er drängelt nicht, will auch keinen Waffenstillstand. Stattdessen sagt er: "Wir stehen hinter Euch." Punkt.
Ausweis großer Differenziertheit sind solche Sätze natürlich nicht, und ob er sich auch als Bundeskanzler mit jemandem so uneingeschränkt verbünden würde, um den es international sehr einsam ist, kann man durchaus fragen. Nur was eben auch stimmt: Klarer Zuspruch hat gerade Seltenheitswert in Israel.
In gepanzerten Wagen geht es in den Norden
Ansonsten ist Merz darauf bedacht, nicht allzu sehr zu wirken, als gehe es bei seinem Besuch um innenpolitische Geländegewinne oder die eigene Ambition. Er spricht bei Terminen mehrfach von seiner "kleinen Delegation", als wolle er die eigene Bedeutung herunterregeln. Er macht mal ein Statement vor den Kameras, mal ein Video für die sozialen Medien, aber gemessen daran, wie breitbeinig er sich zuweilen zeigt, wirkt er in Israel diszipliniert, trittsicher. Selbst der Kanzler bleibt von ihm 48 Stunden lang öffentlich verschont, was bei Merz durchaus etwas heißen will. Ich kann auch anders, das ist das Signal.
Dazu passt, dass er nicht in den Süden Israels fährt, an den Zaun um Gaza, wie die meisten der internationalen Besucher das machen, seit dort die Hamas am 7. Oktober wütete. Merz rückt den Norden in den Fokus, den fast schon vergessenen Krieg an der Grenze zum Libanon, wo die Hisbollah Israel seit Oktober täglich unter Raketen- und Mörserbeschuss nimmt.
Zehntausende sind von dort geflohen, aus Angst vor einem Flächenbrand. Sie leben jetzt weiter südlich, in den größeren Städten. In einem Jerusalemer Hotel trifft Merz eine Gruppe israelischer Flüchtlinge, die seit Monaten darauf wartet, in den Norden heimkehren zu können. "Wir wollen einfach nur zurück", sagt ein Mann. "Ich würde mir wünschen, dass Sie Kanzler werden", sagt einer anderer und lacht. Ein Moment der Heiterkeit in verzweifelter Lage.
Dienstagfrüh, 5 Uhr. Mit gepanzerten Wagen geht es in die Konfliktregion im Norden. Vorbei an Mahnwachen für die Geiseln, die noch in den Händen der Hamas sind, an verlassenen Ortschaften, leeren Schulen, zerstörten Gebäuden, ins Kibbuz Eilon – zwei Kilometer von der Grenze zum Libanon entfernt. Anders als im Gazastreifen, wo die Truppen seit Monaten mit Großoffensiven die Hamas bekämpfen, hält Israel hier nur Defensivstellungen. Tausende Soldaten sichern die Gegend um Eilon, versuchen den Feind zu erspähen, mögliche Gefahren. Über die Grenze darf niemand.
"Für uns ist das ein neue Art Krieg", sagt Kommandeur Dotan Razili, der dem Gast aus Deutschland vor Ort von der Lage berichtet. "Wir nutzen Drohnen, die Hisbollah nutzt Drohnen. Manchmal sind sie sogar in derselben chinesischen Fabrik hergestellt." Die Absurdität des Krieges.
"Ok – dann komme ich wieder"
Jederzeit können hier Raketen einschlagen. So wie im Kibbuz Sasa, den Merz anschließend besucht, nur wenige Kilometer von Eilon entfernt. Vor einigen Wochen zerstörte aus heiterem Himmel eine Rakete das Theater einer Schule, jetzt steht Merz in schusssicherer Weste im Schutt. Fetzen von Dämmwolle liegen im Auditorium noch herum, Holzbalken, Splitter, Glas. Zum Zeitpunkt des Einschlags war niemand da, ansonsten wäre der Angriff wohl in eine Katastrophe gemündet.
Auch hier im Norden ist der Krieg jetzt in seinem fünften Monat, an ein Ende ist nicht zu denken. Von 500 Einwohnern leben hier nur noch 50. Wann die Menschen zurückkehren können? Völlig offen. Man werde so lange weiterkämpfen wie nötig, sagt Kommandeur Razili.
Mit seiner Brigade hat sich Razili einen Plan ausgedacht, ein Projekt, um sicherzustellen, dass man sich auch in langer Zeit noch an den jetzigen Krieg erinnern wird. Man werde die Löcher der Raketeneinschläge in der Gegend suchen, sagt er - und in jeden Krater einen Olivenbaum pflanzen.
"Ok", sagt Merz – "dann komme ich wieder".