Herr Lehmann, zu Beginn eine etwas provokante Frage: Braucht man im Jahr 2022 überhaupt einen Queer-Beauftragten?
Ich wünschte natürlich, wir bräuchten ihn nicht. Denn das würde bedeuten, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Liebe oder ihrem Geschlecht gleichberechtigt und sicher in diesem Land leben können. Das ist aber leider nicht der Fall. Trotz der Einführung der Ehe für Paare gleichen Geschlechtes gibt es noch sehr viel zu tun. Es gibt noch immer diskriminierende Gesetze. Es gibt aber auch in der Gesellschaft Ausgrenzung, Mobbing, Diskriminierung gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Und deswegen freue ich mich, dass die Bundesregierung dieses Anliegen so wichtig nimmt, dass sie dafür einen Beauftragten ernannt hat.
Was sind denn Ihrer Ansicht nach Punkte, bei denen sich die Politik in Deutschland bezüglich LGBTQI (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Intersexual) ändern müsste?
Deutschland hinkt leider innerhalb der Europäischen Union zurück, was den Bereich Anti-Diskriminierung angeht. Wir sind selbst bei der Öffnung der Ehe vor mehr als vier Jahren eher hinterhergehinkt. Andere Länder waren da schneller. In den letzten Jahren ist dann nicht sonderlich viel passiert, während andere Staaten beispielsweise diskriminierende Regeln bei der Blutspende oder gegenüber transgeschlechtlichen Menschen beseitigt haben. Deutschland hat diese Regeln noch. Deswegen müssen wir sowohl politisch als auch gesellschaftlich nachlegen.
Sie wollen den Schutzstatus für sexuelle Vielfalt im Grundgesetz verankern. Denken Sie, dass sich im Bundestag dafür eine Mehrheit finden lässt? In der AfD, aber auch in der Union etwa gibt es da ja – sagen wir mal – kritische Stimmen.
Die homosexuellen und transgeschlechtlichen Menschen sind die letzte damals von den Nazis verfolgte gesellschaftliche Gruppe, die noch keinen expliziten Schutzstatus im Grundgesetz hat. Wir kennen in Artikel 3 den Schutzstatus etwa aufgrund von Herkunft, Alter, Geschlecht oder Glaube – aber nicht aufgrund der sexuellen Identität. Das ist deshalb wichtig, damit bestimmte Errungenschaften, wie beispielsweise das Recht, den Menschen heiraten zu dürfen, den man liebt, nicht zurückgedreht werden können.
Das geht wegen der Zweidrittel-Mehrheit sowohl im Bundestag als auch Bundesrat nicht ohne die CDU/CSU. Daher wollen wir das mit der Union gemeinsam machen. Da ist noch einiges an Gesprächen nötig, weshalb das kein Schnellschuss wird.
Neue oder geänderte Gesetze ändern aber nicht automatisch die Toleranz in den Köpfen der Menschen. Was wollen Sie da tun?
Wir sind weit gekommen bei der Sichtbarkeit und Akzeptanz, zum Beispiel in Medien und Politik. Aber wir haben Nachholbedarf, was die alltägliche Antidiskriminierungsarbeit angeht, beispielsweise in Schulen und Kitas, in Gesundheitseinrichtungen, am Arbeitsplatz oder in Sportvereinen. Mir ist wichtig, dass wir als Gesellschaft es als Aufgabe begreifen, dass kein Mensch sich verstecken oder Angst haben muss. Viele sind am Arbeitsplatz oder in Sportvereinen ungeoutet. Deswegen werde ich in der Bundesregierung einen Aktionsplan auf den Weg bringen für Vielfalt und gegen Homo- und Transfeindlichkeit, der alle Bereiche umfasst: von der Polizei über Bildung, Justiz bis hin zu Gesundheit.
Wie kann ich mir diese Zusammenarbeit vorstellen mit Institutionen wie Sportvereinen?
Ich habe mich sehr gefreut, dass direkt nach meiner Ernennung beispielsweise der DFB sich bei mir gemeldet und gesagt hat, dass sie auch Interesse daran haben, die Akzeptanz von LSBTI (Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans-, intergeschlechtliche Menschen, Anm. d. Redaktion) im Sport zu fördern und auch schon dabei sind, Maßnahmen ein- oder durchzuführen. Auch mit anderen großen Sportverbänden werde ich Gespräche führen.
Ich will aber auch, dass diejenigen, die sich vor Ort für die Unterstützung von queeren Menschen und die Akzeptanz von Vielfalt einsetzen – beispielsweise Jugendzentren oder Beratungsstellen – auch gut finanziert werden, da diese Angebote für viele überlebensnotwendig sind. Besonders in der Phase des Coming-outs. Viele dieser Einrichtungen gehen auch in Schulen, Sportvereine oder Pflegeeinrichtungen und beraten vor Ort, wie man sensibel und offen mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt umgeht. Diese Angebote kann die Regierung stärken und besser finanzieren.
Sie haben gerade die Schulen angesprochen. In meiner Schulzeit wurde das Wort "schwul" als Schimpfwort benutzt. Haben Sie Pläne, wie Sie Kinder und Jugendliche in der Hinsicht aufklären wollen?
Leider ist es immer noch so, dass "schwul" ein viel benutztes Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen ist. Es gibt bestimmte homofeindliche Muster in der Gesellschaft, die sich über Jahrzehnte und Generationen immer weitertragen. Es gibt aber auch positive Entwicklungen. Viel mehr Jugendliche outen sich mutig in der Schule als früher. Es gibt sehr viele Lehrkräfte und Kita-Erzieher:innen, die die Vielfalt der Gesellschaft zum selbstverständlichen Bestandteil des Unterrichts oder des Kitaalltags machen. Zum Beispiel, dass Familie mehr sein kann als Mutter, Vater, Kind. Sie greifen auf modernes Lehrmaterial zurück, wie etwa Bilderbücher, in denen auch Regenbogenfamilien gezeigt werden oder Schulbücher, wo ein Mädchen sich in ein Mädchen verliebt. Das passiert aber leider noch zu wenig. Es gibt oft zu wenig Raum darüber zu sprechen, wie unterschiedlich wir sind und diese Unterschiedlichkeit als Gewinn für uns Alle zu thematisieren.
Ich glaube, dass die jungen Menschen von heute in einer Selbstverständlichkeit aufwachsen sollten, dass sie selbst entscheiden können, in wen sie sich verlieben und dass das völlig okay und normal ist.
In der katholischen Kirche erfahren viele queere Menschen ebenfalls Diskriminierung. Jetzt haben sich 125 Mitarbeiter:innen der katholischen Kirche unter #OutInChurch als queer geoutet. Werden Sie auch auf die Kirche zugehen und das Thema Diskriminierung ansprechen?
Ich finde diesen Schritt sehr mutig! In der katholischen Kirche bedeutet ein solcher Schritt ein berufliches Risiko. Denn ein Coming-out kann sogar die Kündigung zur Folge haben. Gleichzeitig sehen wir, dass in der katholischen Kirche in den vergangenen Jahren einiges in Bewegung gekommen ist. Viele Engagierte in Laienorganisationen, aber auch etliche Bischöfe, Priester und Ordensleute zeigen sich längst nicht mehr so verschlossenen wie früher gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Eine Ungleichbehandlung im Arbeitsrecht ist hier nicht mehr zeitgemäß. Es ist gut, dass die Koalition vereinbart hat, genau darüber mit den Kirchen in einen Dialog einzutreten.
Was würden Sie jemanden entgegnen, der Ihnen zum Beispiel sagt, dass Homo- oder Transsexualität wider die Natur sei?
Dem kann ich entgegnen, dass dieser Mensch offensichtlich nicht informiert ist. Die Weltgesundheitsorganisation hat bereits vor sehr vielen Jahren Homosexualität aus der Liste der Erkrankungen gestrichen, Transgeschlechtlichkeit ebenso. Wir reden wissenschaftlich sehr fundiert über eine ganz natürliche Variante der Sexualität oder der geschlechtlichen Entwicklung. Das sind die Fakten. Ich glaube, manchmal gibt es Unwissenheit oder Ängste. Das kann man aufklären. Sobald es aber in offene Ablehnung, Hass oder Angriffe übergeht, ist der Rechtsstaat gefragt, dies mit aller Entschiedenheit zu ahnden. Aber auch die ganze Gesellschaft ist gefragt Stellung zu beziehen. Denn wenn ein Mensch, nur weil er liebt, gemobbt oder auf der Straße angegriffen wird, dann sind auch die Demokratie und die freie Gesellschaft in Gefahr.

Nun gibt es Länder auf der Welt, in denen queere Menschen verfolgt werden, ihnen Gefängnis oder gar die Todesstrafe droht. Werden Sie sich da auch engagieren, dass die Bundesregierung dies etwa bei Staatsbesuchen anspricht?
Unbedingt! Zu diplomatischen und außenpolitischen Beziehungen gehört dazu, dass man Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern anspricht. Ich bin sehr froh, dass beispielsweise die neue Außenministerin Annalena Baerbock da auch einen neuen Ton anschlägt. Das ist deshalb so wichtig, weil die Menschen, die in diesen Ländern leben, gesehen, beachtet und anerkannt werden wollen. Das ist sehr entscheidend. Das beginnt ja schon in der EU, in Polen etwa oder Ungarn. Dort gibt es eine massive Ausgrenzung von queeren Menschen.
Sie selbst sind homosexuell, engagieren sich seit vielen Jahren für queere Menschen. Was hat sich Ihrer Meinung nach in diesen Jahren in Deutschland verändert?
Queere Menschen sind heute sehr viel sichtbarer. In der Popkultur wird in Serien wie "Princess Charming" oder "Sex Education" geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ganz natürlich wiedergegeben. Das hätte ich mir in meiner Jugend wirklich gewünscht. Wir sind weit gekommen, aber längst nicht weit genug.
Was denken Sie: Was werden Sie zum Ende Ihrer Amtszeit alles erreicht haben?
Ich freue mich erst mal, dass die neue Bundesregierung und die Ampel-Parteien sehr viel Gutes verabredet haben im Koalitionsvertrag. Zum Beispiel die Überwindung des diskriminierenden Transsexuellengesetzes, ein modernes Familienrecht oder den Aktionsplan gegen Homo- und Transfeindlichkeit und für Vielfalt. Das sind die Punkte, die ich unbedingt erreichen möchte. Also Gesetze ändern und Maßnahmen auf den Weg bringen, die nachhaltig wirken. Und mir ist wichtig, dass ich eine Ansprechperson bin für die Verbände, die Community und die vielen Menschen, die sich wünschen, dass auch in der Regierung jemand ist, der ihre Sorgen, Nöte und Anliegen sieht. Wenn es in ein paar Jahren selbstverständlich geworden ist, dass auch eine Regierung ein offenes Ohr für queere Anliegen hat, dann wäre das sehr viel, was ich in dieser Amtszeit hoffentlich erreichen kann.