Hierarchie im DFB-Team Die Bayern haben das Sagen

Von Klaus Bellstedt, Danzig
Ohne funktionierende Hackordnung kein Erfolg bei einem großen Turnier. Kurz vor dem ersten EM-Auftritt zeigt sich: In Löws Team sind die Bayern den Dortmunder Überfliegern noch weit voraus.

Die Tage vor Beginn eines großen Turniers sind immer jene Tage, in denen sich auch die Hierarchie einer Mannschaft finden muss. Eine klare Struktur muss her. Auch im Nationalteam. Sie ist die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Abschneiden bei dieser EM, die für die Deutschen in drei Tagen mit dem ersten Gruppenspiel gegen Portugal in Lwiw beginnt.

Auf dem kleinen Trainingsplatz in der Nachbarschaft des deutschen Quartiers Dwor Oliwski schart Joachim Löw täglich 23 Männer um sich. Die Vorbereitung mit den beiden Trainingslagern auf Sardinien und in Südfrankreich war zerstückelt. Erst ganz am Ende hatte der Coach seinen gesamten Kader beisammen. Das hat die Bildung der Europameisterschafts-Hierarchie zusätzlich erschwert. Jetzt hat die Gruppe in etwa die Größe einer Schulklasse. Und der Bundestrainer nimmt die Rolle des Lehrers ein. Eigentlich ist er der Direktor. In der Politik spricht man von Richtlinienkompetenz. Genau die hat Löw inne. Aber wer ist sein Klassensprecher? Und wer gehört zum inneren Zirkel seines Vertrauens? Welche Spieler sind einfach nur Mitläufer und ducken sich? Gibt es einen Außenseiter? stern.de stellt die Hackordnung der deutschen Nationalmannschaft vor.

Die Klassensprecher: Lahm und Schweinsteiger

Die beiden Bayern-Stars Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger sind in der Mannschaft unantastbar. Lahm trägt die Binde, ist der 1a-Kapitän. Er sagt: "Respekt und Stellenwert in der Gruppe bekommt man nicht durch das Auftreten, sondern durch Leistung auf dem Platz. Ich bin das Bindeglied zwischen Team und Trainer." Während Lahm eher ein leiser Chef ist, besticht der Co-Kapitän vielleicht sogar mit noch mehr Führungsqualitäten. Löw nennt Schweinsteiger seinen "emotionalen Leader". Und auch nach seinem fatalen Fehlschuss im Champions-League-Finale gegen Chelsea besteht kein Zweifel an seiner Rolle im Team.

Schweinsteiger hat sich definitiv aus seinem Loch herausgekämpft. Das kann man bei den Trainingseinheiten in Danzig gut beobachten. Der Chef auf dem Platz hat wieder Spaß bei der Arbeit. Und die Kollegen folgen uneingeschränkt seinen Kommandos. Lahm und Schweinsteiger sind unterschiedlich, aber sie sind beide Alphatiere. Solange die Rollen zwischen den beiden Anführern klar verteilt sind, kommt das jeder Mannschaft der Welt zugute.

Die Stellvertreter: Mertesacker, Klose, Podolski

Zusammen mit Lahm und Schweinsteiger bilden Per Mertesacker, Miroslav Klose und Lukas Podolski den fünfköpfigen Mannschaftsrat in der Nationalmannschaft. Keiner aus Löws Kader hat mehr Erfahrung als Klose. Der Stürmer hat jetzt 116 Länderspiele auf dem Buckel. Am Samstag wird er 34 Jahre alt. Löw sagt: "Miro wirkt ja wie ein 25-Jähriger." Kloses Platz in der ersten Elf ist zementiert – trotz seiner langen Verletzungspause. Das zeigt sich, welch hohen Stellenwert der Angreifer von Lazio Rom bei Löw genießt.

Der Routinier wird vom Bundestrainer aber auch deshalb so geschätzt, weil er immer ein offenes Ohr für die jungen Spieler hat und die Jungspunde behutsam an die Mannschaft heranführt. Eine Kunst, die mittlerweile auch Lukas Podolski beherrscht. Er nähert sich ebenfalls der 100-Länderspiel-Marke und ist so etwas wie der gute Geist des Teams. Podolski reißt die Kollegen mit seiner fröhlichen Art mit. Aber er ist längst nicht mehr nur der Klassenclown. Sein Wechsel zu Arsenal hat ihm zusätzliche Anerkennung gebracht. Per Mertesacker war lange verletzt. Löw ist das egal. Die Abwehr-Latte gehört seit Jahren zum inneren Kreis seines Vertrauens. Der Innenverteidiger ist intelligent. Auf dem Platz übernimmt er sofort Verantwortung. Genau das schätzt der Trainer so an ihm.

Der starke Unterbau: Khedira, Özil, Neuer

Sami Khedira und Mesut Özil sind mit Real Madrid Meister geworden. Ihre Brust ist spürbar breiter geworden. Die jungen Spieler schauen zu ihnen auf. Wer mit Casillas und Ronaldo zusammen Titel holt, ist etwas Besonderes. Sportlich bildet das Duo gemeinsam mit Schweinsteiger das Herzstück der Mannschaft, den Kern des Mittelfelds. Auch das macht sie so wichtig. Für Manuel Neuer ist die EM in Polen und der Ukraine erst das zweite große Turnier. "Meine Rolle hat sich verändert. Ich übernehme im Team jetzt viel mehr Verantwortung als 2010 bei der WM in Südafrika", sagte der Torwart am Mittwoch in Danzig. Neuer ist der Ausgangspunkt der wichtigen Spielfeldachse mit Mertesacker, Schweinsteiger, Özil und Klose.

Die Aufmüpfigen: Müller und Badstuber

Eine Stufe darunter rangieren zwei weitere Bayern-Profis. Thomas Müller und Holger Badstuber sind nicht nur jung, unangepasst und selbstbewusst, sie sind auch dicke mit Bastian Schweinsteiger und gehören wie Manuel Neuer zur sogenannten "Gärtnerplatz-Connection". Alle vier wohnen im trendigen Glockenbach-Viertel in München. Wer mit dem Co-Kapitän befreundet ist, hat automatisch auch in der Nationalmannschaft Einfluss. Abgesehen davon sind Badstuber und Müller in Löws Augen feste sportliche Größen und stehen in der ersten Elf.

Die Mitläufer: Boateng und Kroos

Doch wo stehen eigentlich die Dortmunder Doublegewiner in der Rangliste? Die müssen sich weiter hintenanstellen. Erst kommen mit Jerome Boateng und Toni Kroos zwei weitere Bayern-Spieler. Boateng wird aller Voraussicht rechts hinten verteidigen – nicht zuletzt aus Mangel an Alternativen, falls Lahm links spielt. Kroos ist ganz wichtig in Löws Gerüst. Der Bundestrainer hat ihn mal als "Zwischenspieler" bezeichnet. Damit meinte er aber nicht zwischen Bank und Rasen, sondern zwischen Abwehr, Mittelfeld und Angriff. Boateng und Kroos können bei dieser EM zu Gewinnern werden, gehören aber wegen ihrer stillen Art eher zu den Hierarchie-Hinterbänklern.

Die Back-ups: Gomez, Hummels, Schürrle

Erst jetzt taucht endlich der erste BVB-Profi auf. Mats Hummels würde so wahnsinnig gerne in der Innenverteidigung neben Holger Badstuber verteidigen, darf es aber nicht. In dem Moment, als sich Mertesacker im Trainingslager wieder fit gemeldet hatte, gab der auch wieder die Kommandos. Ein klares Zeichen! Löw sieht Hummels kritisch, sein Spiel mit langen Bällen gefällt ihm nicht. Deshalb ist er in der Defensive auch nur dritte Wahl. Da können die Dortmunder Offiziellen Zorc und Watzke noch so sehr zetern. Auch die Laune von Mario Gomez ist gerade nicht die Beste, was an Klose liegt - und weil der Bayern-Goalgetter selber weiß, dass er als Einwechselspieler einfach nicht so gut funktioniert. Kurzeinsätze liegen Gomez nicht. Bankdrücker klettern in der Hierarchie der Nationalmannschaft normalerweise nicht nach oben. André Schürrle ist da eine kleine Ausnahme. Wann immer er beim DFB für Poldi eingewechselt wird, besticht er mit Einsatz und Toren. Darauf steht der Bundestrainer. Schürrle hat, mehr als Gomez und Hummels, das Potenzial zum EM-Aufsteiger.

Joker ohne Einfluss: Reus und Götze

Marco Reus ist so etwas wie der Gewinner der Vorbereitung. Löw testete den Noch-Gladbacher als Stürmer und befand ihn für gut. So geht künftige Dortmunder als dritter deutscher Angreifer in dieses Turnier. Der junge Götze (20) wird wohl noch weniger Einsatzzeit als Reus (23) bekommen. Aber klar: Als Joker kann er aufgrund seiner Klasse immer etwas bewirken. Aufgrund ihres Alters und vor allem ihrer mangelnden Turniererfahrung hat das Kreativ-Duo intern aber kaum etwas zu melden.

Die Ballnetzträger: Höwedes, Schmelzer, Gündogan, Bender

Benedikt Höwedes und Marcel Schmelzer kommen - egal auf welcher Seite Lahm spielt - leistungsmäßig nicht an dem mächtigen DFB-Kapitän vorbei. Das macht sie in erster Linie zu Beobachtern des Geschehens. Bender und Gündogan sind vor allem deshalb dabei, um ein bisschen EM-Luft zu schnuppern. Immerhin: Für schlechte Stimmung werden die vier nicht sorgen.

Die Quasi-Statisten: Wiese und Zieler

Nun ja, als Torhüter kommt Tim Wiese halt nur zum Einsatz, wenn Neuer ausfällt. Und die deutsche Nummer drei, Ron-Robert Ziegler, ist vor allem für die Trainingseinheiten wichtig. Da braucht die zweite Mannschaft - abgesehen vom Ex-Bremer - noch einen zweiten zuverlässigen Torwart. Wiese ist als Spaßmacher übrigens überaus beliebt in der Mannschaft, er ist auch der einzige, der sich nach Feierabend gelegentlich mal eine ansteckt. Löw, der das Rauchen vor einem Jahr aufgegeben hat, sieht darüber generös hinweg. Bei Schweinsteiger würde er es wohl eher nicht so locker sehen.

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