Hat Russland sein langjähriges Mündel Armenien vor den Bus gestoßen? Ist die EU zu höflich gegenüber seinem (Gas-)Partner Aserbaidschan? Spielt der Westen überhaupt eine Rolle im Konflikt um Bergkarabach und wer kann künftig bei der Aufrechterhaltung des Waffenstillstands in der eskalationsanfälligen Region helfen?
Kaukasus: wenig Platz, viele Ethnien
Im Kaukasus, eigentlich ein Gebirge im Süden Russlands und den Nachbarstaaten zwischen Schwarzen und Kaspischem Meer, schwelen schon lange zahlreiche Konflikte. Sehr viele Ethnien, Völker, Staaten und selbsternannte Republiken liegen auf engen Raum mit- und untereinander im Clinch.
Mit dabei, wenn manchmal nur als "Schutzmacht": Nachbarländer wie Russland oder die Türkei und Partner wie die EU und die USA. Welche Rolle spielen sie?
- Russland
Als dort noch die Zaren herrschten, hatten die sich Teile des Kaukasus einverleibt. Nach Ende des Kaiserreichs sowie nach Auflösung der Sowjetunion ab 1990 begann es in der Vielvölkerregion zu rumoren. Einige Gegenden wie Abchasien, Georgien und Tschetschenien zog es in die Unabhängigkeit, andere, wie Südossetien, wollen zurück zu Mütterchen Russland.
Bergkarabach gehört zu Aserbaidschan, wird aber von Armeniern bewohnt. Beide Länder wiederum werden von den Hegemonial- und Regionalmächten Russland und der Türkei unterstützt. Armenien, der erste christliche Staat der Welt, vom orthodoxen Russland, Aserbaidschan von der ebenfalls muslimisch geprägten Türkei.
Russische Friedenstruppe untätig
Es war auch die Führung in Moskau, die nach dem vorletzten Krieg 2020 ein Waffenstillstand vermittelte und diesen mit seinen Truppen überwacht hat. Dennoch haben sie nicht verhindert, dass Aserbaidschan die einzige Zugangsstraße nach Bergkarabach blockieren konnte. Armenier werfen dem Kreml deshalb vor, sie im Stich gelassen zu haben.
Warum? Dazu Südkaukasus-Experte Stefan Meister jüngst im stern: "Die russischen Interessen haben sich seit Februar 2022 gewandelt: Der Ukraine-Krieg verschlingt Putins militärische Ressourcen. Russland braucht wegen westlicher Sanktionen den Nord-Süd Korridor in den Iran, der über Aserbaidschan geht. Außerdem braucht Moskau die Türkei als alternative Handelsroute und, um Sanktionen zu umgehen. Putin ist also bereit, Kompromisse auf Kosten der Armenier zu machen. Das bedeutet auch, dass die sogenannten Friedenstruppen, die Russland in Bergkarabach stationiert hat, passiv bleiben."
- Die Türkei
steht dagegen unverdrossen hinter seinem Partner: "Wir unterstützen die von Aserbaidschan unternommenen Schritte zur Verteidigung seiner territorialen Integrität", sagte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Zugleich sprach er sich für eine "Fortsetzung umfassender Verhandlungen zwischen Aserbaidschan und Armenien" aus – für Erdogan ein typisches Vorgehen. Auch in anderen Konflikten versucht er sich als Mittelsmann – wie im Ukraine-Krieg.
Türkei: Mittler zwischen den Stühlen
Ein Grund: die Lage der Türkei. Das Land sitzt geografisch zwischen den Stühlen, ist sowohl EU- als auch Kaukasus-Anrainer und über das Schwarze Meer Nachbar der Ukraine und Russlands. Das Verhältnis zu Armenien ist getrübt, vor allem seit dem Völkermord an den Armenieren im Ersten Weltkrieg. Der "Sieg" des Verbündeten wird in türkischen Medien bejubelt: "Aserbaidschan hat den armenischen Militanten, die über das Ziel hinausgeschossen sind, die Faust gezeigt", heißt es etwa in der regierungsnahen Zeitung "Sabah".
Die beiden Länder sind mittlerweile wirtschaftlich eng miteinander verbunden, vor allem Gas und Investorengeld fließt in die Türkei. Der frühere aserbaidschanische Präsident Gejdar Alijew sprach einmal von "einer Nation in zwei Staaten". Ankara aber ist auch an einer Normalisierung im Umgang mit Armenien interessiert. Auch, weil sich das Land zuletzt etwas von Russland entfernt hatte und die Nähe zur Nato sucht – was Aserbaidschan allerdings eifersüchtig zu unterbinden versucht.
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- Der Westen
Sowohl die EU als auch die USA sind in dem Konflikt mehr oder weniger zum Zuschauen verdammt. "Das ist auch das Resultat von fehlendem Engagement in dem Konflikt in den letzten Jahren durch den Westen", so Kaukasus-Experte Meister im stern. Erst Mitte vergangenen Jahres hatte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ein Gas-Abkommen mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliew getroffen, das die Exporte nach Europa verfünffachen soll. "In diesem Moment wusste Aliew, dass er in Bezug auf Bergkarabach weitgehend freie Hand haben würde", schreibt stern-Reporter Moritz Gathmann.
Die USA, den Konflikten in Europa überdrüssig, haben sich auf die Seite Armeniens geschlagen, aber nur symbolisch Partei ergriffen. Mitte September haben beide Länder ein Militärmanöver abgehalten. An "Eagle Partner 2023" waren 175 armenische und 85 amerikanische Soldaten beteiligt. Über den Kurzkrieg zeigt sich US-Außenminister Antony Blinken lediglich "besorgt".
Und was passiert in Bergkarabach?
- Armenien und Aserbaidschan
Von den Russen im Stich gelassen und im Westen nicht angekommen, sind die Armenier die Verlierer des Konflikts. Vor allem die, die in Bergkarabach leben. Noch ist nicht absehbar wie die siegreichen Aserbaidschaner, gut ausgestattet mit Petrodollars und Militär-Knowhow, in den Gebiet vorgehen werden. Ob die Bevölkerungsmehrheit bleiben darf oder vertrieben wird, wie viele fürchten. Aserbaidschan plant, Bergkarabach ins Staatswesen "zu integrieren" und sicher dabei ist nur, dass die Karabach-Armenier ziemlich allein dastehen.
Quellen: Deutsche Welle, "Tagesspiegel", DPA, AFP