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Griechenland Wie immer neue Sparpakete viele Griechen an den Rand ihrer Existenz bringen

Protest gegen das neunte Sparpaket in Athen, Griechenland
Vielen bleibt längst nur noch der Protest: Demonstration in Athen gegen das neunte Sparpaket für Griechenland.
© Thanassis Stavrakis/AP/dpa
Die Welt schaut auf Donald Trumps Eskapaden. Das bedeutet nicht, dass andere Krisen bewältigt sind. In Griechenland greift in diesen Tagen schon das neunte Sparpaket. 
Von Ferry Batzoglou

Michalis Routzakis, 66, offenes Hemd, prüfender Blick, mittelgroß, schlank. Er wirkt nicht nur müde, er ist es auch. Routzakis wühlt in einer Plastiktüte aus dem Supermarkt. Sie ist voller Medikamente. Endlich hat er die Arznei gefunden, die er um diese Zeit unbedingt nehmen muss. Täglich.

Routzakis schluckt die Pille. Die Tüte lässt er auf dem Holztisch in seinem Wohnzimmer einfach liegen. Er wird bald wieder hineingreifen.

Der Grieche erlitt im August 2013 gleich mehrere Herzinfarkte. Er braucht rund 300 Euro für Medikamente. Jeden Monat. Das ist sein Eigenanteil, den er zu berappen hat, obgleich ihm amtlich ein Behinderungsgrad von 80 Prozent bescheinigt worden ist.

Das Geld hat er nicht. Sein Einkommen beträgt: null Euro. Und dies schon seit Jahren. Auf seine Rente wartet er noch. Um die Medikamente gratis zu beschaffen, macht er sich immer wieder auf den Weg zu einer Sozialklinik. Sie versorgt auf Spendenbasis Tausende notdürftige Patienten.

Das ganze Hab und Gut verloren

Routzakis ist tief gefallen. Der studierte Ökonom war Top-Manager in diversen Baufirmen, er verdiente 7000 Euro im Monat, vierzig Jahre lebte er mit seiner Familie im reichen Norden der Vier-Millionen-Metropole, zwei seiner drei Kinder haben in London studiert.

Zum Verhängnis wurde ihm eine Investition in eine Windparkanlage auf dem Peloponnes. Sein Geschäftspartner, eine große französische Firma, ließ ihn im Stich, als die desaströse Krise in Hellas ihren Anfang nahm. Die Begründung der Franzosen: Griechenland habe keine Zukunft mehr. Punkt.

So verlor Routzakis sein ganzes Hab und Gut. Er musste seine Häuser verkaufen, die Ölbilder, den Familienschmuck. Was sich tief ins Gedächtnis seiner Frau Erofili, früher Verkäuferin, nun ebenfalls arbeitslos, eingegraben hat: "Der schlimmste Moment war, als wir unsere Eheringe verkaufen mussten." Ihre Stimme stockt. Sie kann nicht weiterreden. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Einst erfolgreicher Unternehmer, nun mittelloser Rentner: Michalis Routzakis nimmt das nächste Sparpaket für Griechenland apathisch hin. "Ich bin fertig", sagt er.
Einst erfolgreicher Unternehmer, nun mittelloser Rentner: Michalis Routzakis nimmt das nächste Sparpaket für Griechenland apathisch hin. "Ich bin fertig", sagt er.
© Ferry Batzoglou/stern

Die Verwandten helfen. Routzakis schämt sich

Für all' die Medikamente, für die Miete der Wohnung im Südosten Athens, für die Lebensmittel aus dem Discounter: Das Paar brauche etwa 1500 Euro im Monat, um über die Runden zu kommen, so Routzakis.

Das Geld kriegen sie von Verwandten, auch aus dem Ausland. Sie schämen sich dafür. Aber es geht nicht anders. Denn in Hellas existiert keine Grundsicherung. Das Arbeitslosengeld, ohnehin ein Almosen, wird höchstens 24 Monate bezahlt. Danach ist Schluss.

Routzakis', gelinde gesagt, diffizile Lage wird sich auch nicht verbessern, wenn die Athener Links-Rechts-Regierung unter dem im Juli 2015 jäh gezähmten Spargegner Alexis Tsipras vom "Bündnis der Radikalen Linken" ("Syriza") nach monatelangen, zähen Verhandlungen mit Griechenlands öffentlichen Geldgebern EU, EZB, IWF sowie ESM nun plötzlich im Eilverfahren im Athener Parlament ein neues, schmerzliches Sparpaket durchgepeitscht haben wird. Die Abstimmung findet am späten Donnerstagabend statt.

941 Seiten voller neuer Gräuel und Grausamkeiten

Generalstreik am gestrigen Mittwoch hin, landesweite Protestkundgebungen zu Füßen der Akropolis am heutigen Donnerstag her: Es ist schon das neunte Sparpaket, das bereits dritte unter der Regierung Tsipras, das in Athen seit März 2010 verabschiedet wird.

Es ist ein Konvolut, genau 941 Seiten dick, voller neuer Gräuel und Grausamkeiten für Rentner und Pensionäre, Freiberufler, Lohn- und Gehaltsempfänger, Privathaushalte sowie Mittellose und Arbeitslose.

Das simple Motto: Renten und Zulagen für Hilfsbedürftige runter, Steuern rauf. Es gibt fortan auch Steuern auf Steuern. Die Sparmaßnahmen werden zwar jetzt beschlossen, aber stufenweise erst ab 2018 (neues Sparvolumen: 500 Millionen Euro) bis einschließlich 2021 umgesetzt. Das gesamte neue Sparvolumen bis 2021: 5,4 Milliarden Euro.

Weiter sparen, auch ohne EU-Kredite

Die Regierung Tsipras hatte bereits im Sommer 2015 Sparmaßnahmen im Volumen von 8,6 Milliarden Euro beschlossen. Das gesamte Sparvolumen aller Sparpakete seit Tsipras' Machtübernahme im Januar 2015 erreicht so fulminante 14 Milliarden. Euro.

Das Novum: Während Tsipras' Vorgänger die ersten beiden Kreditprogramme samt rigider Spar- und Reformauflagen nicht abschließen konnten und politisch auch nicht überlebten, durften Tsipras und Co. das im Juli 2015 mit Brüssel, Berlin und Washington vereinbarte dritte Kreditprogramm wie vereinbart bis August 2018 abschließen.

Ferner will die Regierung Tsipras sogar noch länger und mehr sparen als das dritte Kreditprogramm als Gegenleistung für Kredite bisher vorsah. Diesmal soll Athen pikanterweise ohne jegliche zusätzliche Kredite auskommen. Das Credo: "Wir sparen weiter - auch ohne frische Kredite aus Europa."

Ein Vermummter im schwarzen Hoodie umgeben von Rauchschwaden bei Demo in Athen
Explosive Lage: Demonstration gegen das neue Sparpaket für Griechenland am Mittwoch in Athen.
© Petros Giannakouris/AP/dpa

Regierungslager geschlossen für neues Sparpaket, Opposition dagegen

Entgegen anderslautender Meldungen steht das Regierungslager, das nur über eine hauchdünne Mehrheit von 153 Abgeordneten in der 300 Sitze zählenden "Boule der Hellenen" verfügt, nicht vor einer Zerreißprobe.

Tsipras und Co. werden geschlossen für das neue Sparpaket stimmen - und so Zeit zum Weiterregieren kaufen. Bestenfalls bis zum Herbst 2019, wenn turnusgemäß die nächsten Wahlen anstehen. "Griechenland kehrt nach vielen Jahren einer ernsten Krise zum Wachstum zurück", frohlockt Premier Tsipras.

Obschon allenthalben klar ist, dass auch das neunte Sparpaket seit Ausbruch der Hellaskrise die hiesige Wirtschaft wohl abwürgen wird, sprüht die Regierung Tsipras mit Blick auf Hellas' Wachstumsperspektiven vor Zuversicht. Das griechische Bruttoinlandsprodukt soll heuer um 1,8 Prozent wachsen, dann um 2,4 Prozent (2018), um 2,6 Prozent (2019), um 2,3 Prozent (2020) und um 2,2 Prozent (2021). Nur: Die griechische Wirtschaftsleistung brach von 2008 bis 2013 um kumuliert 27,3 Prozent ein, von 2014 bis 2016 stagnierte sie. Folglich wird Hellas' BIP 2021 auch nicht annähernd den Vor-Krisen-Stand erreicht haben.

Sparkurs, obwohl Haushalt längst saniert ist

Die Arbeitslosigkeit soll hierzulande zudem von gegenwärtig 23 Prozent auf 16,3 Prozent sinken. Alles nur Wunschdenken? Nicht nur notorische Zweifler verweisen darauf, dass Hellas seit Oktober 2016 wieder in die Rezession gerutscht sei - als einziges EU- und Euroland.

Zwar ist Athens Staatshaushalt schon längst saniert. Dennoch soll der rigorose Sparkurs verschärft werden. Der wichtigste Indikator dafür: Der sogenannte primäre Haushaltsüberschuss (ohne den Schuldendienst). Er soll sich nach einem völlig unerwarteten, sagenhaften Plus von 4,2 Prozent im Jahr 2016 - das Achtfache (!) der ursprünglichen Zielvorgabe - im laufenden Jahr 2017 auf 1,9 Prozent belaufen. Hernach soll der primäre Haushaltsüberschuss in Athen auf 3,5 Prozent (2018), 4,4 Prozent (2019), 4,8 Prozent (2020) und schließlich sogar gigantische 5,6 Prozent im Jahr 2021 klettern.

"Wir werden ausgequetscht"

"So lange und so hart hat noch kein Land sparen müssen. Nicht einmal Länder, die Kriege vom Zaun gebrochen haben, wurden so sehr bestraft", polterte Georgios Kavvathas von der Griechischen Vereinigung der Händler und Mittelstandsunternehmen (GSEVEE) am Dienstag bei einer Anhörung im Athener Parlament.

Was auch Kavvathas weiß: Die ohnehin eingebrochene Inlandsnachfrage in Griechenland wird sich bis 2021 mit diesem Sparkurs kaum erholen. Mit fatalen Folgen: Der Privatkonsum macht weiter mehr als 70 Prozent der griechischen Wirtschaftsleistung aus. Daran wird auch der erwartete Supersommer für die griechische Boombranche Tourismus nur wenig ändern. Die griechischen Exporte schwächeln weiter, in Sachen Investitionen aus dem Ausland ist Griechenland EU-Schlusslicht.

Die Laune der Griechen ist mies. Egal, wen man in diesen Tagen auf den Straßen Athens, Thessalonikis oder im Umfeld fragt: Die Griechinnen und Griechen stöhnen schon längst angesichts der nicht enden wollenden radikalen Einschnitte und der fortgesetzten massiven Überbesteuerung.

Unverhohlen klagen sie: "Wir werden ausgequetscht!"

Mann sucht in Athen im Müll nach Essbarem
Längst Alltag in Athen: Viele Einwohner der Hauptstadt müssen im Müll nach Essbarem suchen. Diese Menschen trifft das neue Sparpaket für Griechenland schon gar nicht mehr.
© Ferry Batzoglou/stern

Renten fallen in Griechenland um 50 Prozent

Besonders die Rentner müssen bluten. Kassierte ein Rentner der grössten Versicherungskasse IKA 2010 noch eine Jahresrente von 30.384,10 Euro, wird er 2019 nur noch eine Rente von 15.520,02 Euro erhalten, wie Experten penibel vorrechnen - brutto wohlgemerkt. Dies entspricht einem Rückgang von 50 Prozent.

Ein Beamter mit Uni-Abschluss und nach 35 Dienstjahren strich 2010 eine Pension von insgesamt 26.244,06 Euro ein, im Jahr 2019 werden es hingegen nur noch 14.229,12 Euro sein (- 45,8 Prozent).

Das fröhliche Schröpfen hat damit aber noch kein Ende. Denn der Steuerfreibetrag sinkt mit Tsipras' neuem Sparpaket weiter, von aktuell 8636 Euro auf 5636 Euro (für Steuerpflichtige ohne Kinder). Wen das selbtsredend am härtesten trifft? Die Ärmsten der Armen.

Einmalig in Europa: Seit 2013 weisen die hellenischen Privathaushalte eine negative Sparquote auf. Allein 2016 erreichte sie ein Minus von fulminanten 9,4 Prozent, wie jüngst eine Studie der Industriellenvereinigung SEV ergab. Will heissen: Die Griechen zehren von ihren immer weiter schrumpfenden Rücklagen, falls sie überhaupt noch welche haben. Zum Vergleich: Die EU-Länder weisen unisono konstant eine positive Sparquote von rund 10 Prozent auf.

Dem brutalen Dauersparen in Athen zum Trotz: Die Staatsschulden werden im Jahr 2021 höher als ausgerechnet per Ende 2009 sein. Damals ging der griechische Staat faktisch bankrott. Konkret: Belief sich die griechische Staatsschuld per Ende 2009 auf 299 Milliarden Euro, wird sie im Jahr 2021 auf 316 Milliarden Euro gestiegen sein. Dies prognostiziert die Regierung Tsipras.

Und dies, obwohl Hellas im Frühjahr 2012 offiziell den größten Staatsbankrott in der globalen Finanzgeschichte hinlegte. Griechenlands private Gläubiger verloren damals 107 Milliarden Euro.

Athen will 2018 Rückkehr an die Kapitalmärkte

Kein Wunder, dass die Regierung Tsipras unter Druck steht. Sie eilt von Umfragetief zu Umfragetief. Den knallharten Sparkurs will sie daher mit "positiven" Gegenmaßnahmen wie Mietzuschüssen oder Gratis-Mahlzeiten für Schüler versüßen, um so ihr linkes Profil zu schärfen.

Der Haken daran: Sie greifen erst dann, wenn die angepeilten exorbitanten Haushaltsüberschüsse auch noch übertroffen werden. Überdies hat der hierzulande verhasste IWF dafür grünes Licht zu geben. Athens Opposition überzieht die Regierung Tsipras nicht zuletzt dafür mit Häme und Spott.

Tsipras' Narrativ lautet hingegen: Das sei "das letzte Opfer", dass die Griechen bringen müssten. Diesmal wirklich! Das Problem: Kaum ein Grieche glaubt das.

Schon im nächsten Jahr könne sich Griechenland wieder frisches Geld an den internationalen Kapitalmärkten beschaffen, legt Tsipras nach. Und vor allem: Die von Athen geforderte Schuldenerleichterung komme auch bald, vielleicht schon bei der nächsten Eurogruppensitzung am 22. Mai.

Alles nur Durchhalteparolen eines verzweifelten Pseudo-Linken? Mikis Theodorakis, 91, weltberühmter Komponist und Gallionsfigur der griechischen Linken, fällt jedenfalls ein niederschmetterndes Urteil über den Regierungschef. "Tsipras ist ein unmoralischer Machtmaniker", so Theodorakis. Abschätziger geht es nicht.

Michalis Routzakis lässt das alles nur noch kalt. Seine Haltung mit Blick auf das neue Sparpaket in Athen: Apathie. Und Enttäuschung, gar Resignation. "Ich bin erledigt", sagt Routzakis unverblümt. Seine Frau Erofili weint. Diesmal heftig.

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