Im Irak und in Syrien dehnt die Miliz Islamischer Staat (IS) ihr Terrorregime auf immer mehr Orte aus. IS gewann bereits 2013 an Einfluss, als der Streit der von Schiiten dominierten irakischen Regierung mit sunnitischen Parteien eskalierte. Zweieinhalb Jahre nach Ende des Irak-Kriegs hat US-Präsident Barack Obama jetzt Luftangriffe auf die Milizien genehmigt, um amerikanische Militärangehörige und bedrohte Minderheiten im Nordirak zu schützen.
Wer oder was ist IS?
Die radikal-islamistische Terror-Organisation formierte sich 2004 als Ableger al Kaidas im Irak, um gegen die US-Besatzung zu kämpfen. Anfangs firmierte die Gruppe unter verschiedenen Namen, der bekannteste war "al Kaida im Irak". In den ersten Jahren verübte sie zahlreiche Anschläge gegen US-Soldaten. 2012 griff die Gruppe in den syrischen Bürgerkrieg ein, gegen den Willen des al-Kaida-Anführers Aiman al Sawahiri.
Seitdem agiert die Gruppe unabhängig von al Kaida. Anfang 2013 änderte sie ihren Namen in "Islamischer Staat im Irak und Groß-Syrien", kurz ISIS. Ende Juni rief die Truppe in den von ihr kontrollierten Gebieten in Syrien und im Irak ein Kalifat aus und änderte ihren Namen in "Islamischer Staat", kurz IS.
Die IS-Kämpfer kommen überwiegend aus der arabischen Welt und dem Kaukasus, aber auch aus den USA und europäischen Staaten; laut manchen Berichten sogar aus China und Indien. Ihr Anführer ist Abu Bakr al Baghdadi, vermutlich 1971 im Irak geboren. Er hat sich selbst zum Kalifen erklärt und alle Muslime weltweit dazu aufgerufen, ihm Gefolgschaft zu leisten.
Wie stark ist IS?
Geschätzt 10.000 Männer kämpfen für IS. Sie kontrollieren Gebiete im Norden Syriens, darunter die Städte Rakka und Deir es Sor, sowie größere Landstriche im Norden und Westen des Iraks, darunter Mosul, die größte Stadt im Norden des Landes. Gemäß einer Schätzung haben die IS-Kämpfer 35 Prozent des syrischen Territoriums in ihrer Gewalt. Im Irak rücken sie stetig weiter vor: Am vergangenen Wochenende eroberten sie drei Städte und einen der wichtigsten Dämme des Landes; am Mittwoch überrannten sie die größte komplett christliche Stadt des Irak, Karakosch.
Woher bekommt IS Geld und Waffen?
Frankreich behauptet, IS-Kämpfer verkaufen Öl aus den Ölfeldern, die sie kontrollieren, an das syrische Assad-Regime - welches sie zugleich bekämpfen. Dazu plündern sie die Städte, die sie erobern. Allein in Mosul sollen sie hunderte Millionen Dollar aus dem dortigen Ableger der irakischen Zentralbank in Mosul gestohlen haben. Die Waffen erbeuten sie von irakischen und syrischen Militärbasen.
Wer hilft IS, wer bekämpft die Terrorgruppe?
Ursprünglich drang IS nach Syrien ein unter dem Vorwand, das Regime des alevitischen Präsidenten Baschar al Assad zu bekämpfen. Dessen Truppen unternahmen anfangs allerdings wenig gegen die IS - vermutlich, weil die Islamisten zugleich gegen gemäßigtere Rebellentruppen und die kurdischen Milizen vorgehen, was Assad in die Hände spielte. Erst seit einigen Monaten kommt es auch zwischen seiner Armee und der IS zu heftigen Zusammenstößen.
Im Irak kämpft IS gegen die - schiitisch dominierten - Regierungstruppen und die Peschmerga, die kurdischen Milizen. Die sunnitischen Stämme sind gespalten: Manche kämpfen gegen die Islamisten, andere kooperieren mit ihnen. Für diese Stämme ist die IS eine Verbündete im Kampf gegen die Regierung des schiitischen Staatschefs Nuri al Maliki, der, so ein häufiger Vorwurf, die große sunnitische Minderheit des Landes benachteilige.
Andere Länder der Region beobachten den Vormarsch der IS mit Sorge. Der schiitische Iran hat 2000 Soldaten in den Irak geschickt, die helfen sollen, den Vormarsch der IS zu stoppen. Unterstützung bekommt die irakische Armee auch aus den USA: Heute, am Freitag, hat US-Präsident Barack Obama Luftschläge auf IS-Kämpfer zum Schutz amerikanischer Militärangehöriger und bedrohter Minderheiten im Nordirak autorisiert. Zuvor hatte die US-Regierung bereits 300 Militärberater nach Bagdad geschickt und die Auslandsvermögen mehrerer mutmaßlicher Hintermänner des IS eingefroren.
Stimmt es, dass IS radikaler ist als al Kaida?
Ja. Das meint zumindest al Kaidas Führungszentrale. Im Februar veröffentlichte sie ein Statement im Internet, in dem sie den IS-Kämpfern vorwarf, mit ihrem "Blutvergießen" die Gemeinschaft der Muslime zu spalten. In der Tat gehen die IS-Extremisten extrem brutal vor. In Städten, die sie erobern, zwingen sie der Bevölkerung eine scharfe Version der Scharia auf. Wer sich nicht fügt, wird öffentlich erschossen, geköpft oder gekreuzigt, wie zahlreiche Internet-Videos belegen, die IS-Kämpfer selbst hochladen. Gnadenlos verfolgen die Islamisten alle Andersgläubigen - und dazu zählen sie nicht nur Christen, sondern auch Anhänger anderer islamischer Strömungen wie Schiiten, Sufis (Anhänger eines mystischen Islams) und selbst gemäßigte Sunniten. Im syrischen Aleppo sollen IS-Kämpfer einen Teenager erschossen haben, weil er sich angeblich respektlos über den Propheten Mohammed geäußert habe. In Mosul, wo seit 1600 Jahren Christen leben, stellte der IS die christliche Gemeinde vor die Wahl: Flucht oder Tod. Insgesamt sollen inzwischen 200.000 Menschen im Irak auf der Flucht sein, die Hälfte davon Christen.
Dazu zerstört IS heilige Stätten anderer Religionen und islamischer Strömungen. Fotos in sozialen Netzwerken zeigen, wie Bulldozer Kirchen und islamische Schreine unter sich zermalmen.
Wie gefährlich ist IS für Europa?
Hunderte muslimische Europäer sind nach Syrien gereist, um dort die Rebellen zu unterstützen, darunter allein rund 400 Deutsche. 80 Prozent dieser Europäer, schätzt ein Experte, haben sich IS angeschlossen. Deutsche Sicherheitsbehörden fürchten, dass die Kämpfer radikalisiert zurückkehren und hierzulande Anschläge verüben könnten. Ende Mai erschoss ein französisch-algerischer Islamist im Jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen. Er hatte zuvor im syrischen Bürgerkrieg gekämpft. Ein Islamist aus Essen, der sich in Syrien dem IS angeschlossen hat, ruft jetzt zu Anschlägen auf US-Atombombenlager und Infrastruktur in Deutschland auf.
Sollte die IS ihre eroberten Gebiete in Syrien und dem Irak halten und womöglich ausweiten können, droht eine weitere Gefahr: Diese Städte und Landstriche könnten zum Rückzugsort und zur Planungszentrale von Terroristen werden - wie einst Afghanistan unter den Taliban, wo Al-Kaida-Extremisten das 9/11-Attentat vorbereiteten.