Leichen, Blutlachen und verstreutes Gepäck: Es sind grausame Bilder von Tod und Verwüstung in Kramatorsk. Bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof der ostukrainischen Stadt wurden Dutzende Menschen getötet, der ukrainische Geheimdienst SBU sprach am Freitag von 39 Toten, davon vier Kinder. Dutzende wurden verletzt. Etwa 4000 Menschen hätten sich am Bahnhof aufgehalten, sagte Bürgermeister Olexander Hontscharenko. Die ukrainischen Behörden hatten angesichts einer erwarteten russischen Offensive die Bevölkerung der Gebiete Donezk und Luhansk zur Flucht aufgerufen. Kramatorsk wird von ukrainischen Truppen kontrolliert, gilt aber als Ziel der Russen.

Videos vom Vortag vermitteln ein Bild davon, wie chaotisch die Lage gewesen sein mag. Viele Menschen, die Koffer und Taschen bei sich hatten, wollten aus Angst vor Angriffen die Stadt verlassen. Dann schlugen vermutlich zwei Raketen ein. Im Nachrichtendienst Telegram kursiert ein Video, das den Abschuss aus der Nähe von Schachtarsk zeigen soll. Die Stadt liegt in der von prorussischen Separatisten kontrollierten Region des Gebiets Donezk.
Selenskyj: "Das ist nur ein gewöhnlicher Bahnhof"
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab Russland die Schuld. Das russische Militär habe einen ganz gewöhnlichen Bahnhof angegriffen, sagte Selenskyj am Freitag zu Beginn einer Videoansprache vor dem finnischen Parlament. Menschen hätten an dem Bahnhof auf Züge gewartet, um von diesem in sichere Gebiete evakuiert zu werden.
"Das ist nur ein gewöhnlicher Bahnhof, nur eine normale Stadt im Osten der Ukraine", sagte der Präsident. Der Angriff zeige, was Russland unter Schutz der Donbass-Region und der russischsprachigen Bevölkerung verstehe. "Das ist der 44. Tag unserer Realität", so Selenskyj.
Der Angriff geschah am selben Tag, an dem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell als Zeichen der Unterstützung mit einem Zug nach Kiew reisten. Beide verurteilten den Angriff aufs Schärfste. "Ich bin entsetzt über den Verlust von Menschenleben und werde Präsident Wolodymyr Selenskyj persönlich mein Beileid aussprechen", schrieb von der Leyen auf Twitter.
"Dies ist ein weiterer Versuch, Fluchtrouten zu schließen für diejenigen, die diesem ungerechten Krieg entfliehen wollen, und menschliches Leid herbeizuführen", twitterte Borrell. Die britische Außenministerin Liz Truss betonte: "Ein Angriff auf Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen."

Kreml weist Verantwortung für Angriff in Kramatorsk zurück
Russland wies die Vorwürfe hingegen strikt zurück. Das Verteidigungsministerium in Moskau sprach von einer "Provokation". "Unsere Streitkräfte nutzen diesen Raketentyp nicht", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Agenturen zufolge. Im Blick hatte er den mutmaßlich verwendeten Typ Totschka-U. Militärexperten und Investigativreporter bezweifeln diese Darstellung. Die Totschka-U gilt als weniger zielgenau als die Iskander, die Russland häufig eingesetzt hat.
Kremlsprecher Peskow sagte: "Es gab keine Kampfeinsätze in Kramatorsk, und es waren heute auch keine geplant." Die moskautreuen Separatisten, die Anspruch auf das gesamte Verwaltungsgebiet Donezk erheben, gaben ukrainischen Kräften die Schuld. Sie behaupten immer wieder, ukrainische "Nationalisten" würden die Zivilbevölkerung als Schutzschilde nutzen und deren Evakuierung verhindern. Beweise dafür legen sie nicht vor.

Der Angriff auf Kramatorsk lenkt das Augenmerk stärker denn zuvor auf den Donbass. Russland hatte angekündigt, seine Angriffe auf die Region zu konzentrieren und wohl auch deshalb seine Truppen aus der Nordukraine abgezogen. Dort war der Angriff auf Kiew nach Ansicht westlicher Militärexperten gescheitert. Der Kreml nennt den Rückzug hingegen ein "Zeichen des guten Willens", um Vertrauen für Verhandlungen zu schaffen.
Kämpfe in der Ostukraine dauern an
Doch die Gefechte in der Ostukraine gehen weiter. In der Nacht zum Freitag meldete der ukrainische Generalstab, mehrere russische Vorstöße hätten keinen Erfolg gehabt. Allerdings ziehe der Feind weiter Truppen zusammen. "Wir spüren das Ende der Vorbereitungen für diesen großen Kampf, den wir in den Regionen Luhansk und Donezk haben werden", sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj.
Auch die Ukraine verstärkt ihre Stellungen. An der östlichen Front kämpfen seit Kriegsbeginn die erfahrensten Truppen, die in den vergangenen Jahren bereits den Separatisten gegenüberstanden. Außenminister Dmytro Kuleba warb bei der Nato in Brüssel um deutlich mehr Waffen. "Die Schlacht um den Donbass wird Euch an den Zweiten Weltkrieg erinnern, mit großen Operationen, Tausenden Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Flugzeugen und Artillerie", sagte Kuleba.