"Exponentiell" lautet das Wort, das in einer der heißesten Konfliktherde der Erde bereits jetzt Kandidat für das Unwort des Jahres sein dürfte. Denn damit beschrieb der nordkoreanische Diktator Kim Jong Un zum Abschluss der mehrtägigen Jahresend-Plenarsitzung des Zentralkomitees seiner Arbeiterpartei die Aufrüstungspläne für das kommende Jahr (der stern berichtete). 2023 sollen nicht nur neue Interkontinentalraketen für "einen schnellen nuklearen Gegenschlag" bis in die USA her. Auch kleinere, taktische Atomwaffen sollen alsbald in Masse produziert und ein Spionagesatellit schnellstmöglich ins All geschossen werden. Damit beginnt das neue Jahr, wie das alte geendet hat: mit reichlich Öl im Feuer.
Mit dem mal mehr, mal weniger bedrohlichen Säbelrasseln aus dem vermeintlich sozialistischen Norden haben die Südkoreaner zwar zu leben gelernt. Das schiere Ausmaß, mit der Pjöngjang im vergangenen Jahr die nuklearen Messer gewetzt hat, ist allerdings sehr wohl Grund zur Beunruhigung – auch für die Schutzmacht USA.
Kim gibt sich mutig – dank starker Freunde im Rücken
Noch am Wochenende waren innerhalb von 24 Stunden vier nordkoreanische Kurzstreckenraketen testweise in die Meerenge zwischen Korea und Japan gekracht. In Pjöngjang hieß es unverfroren, man habe ein "supergroßes Mehrfach-Raketenwerfersystem" erprobt. Mit dem sei potenziell ganz Südkorea ein Ziel – auch für Atomsprengköpfe. Es war der feurige Abschluss eines raketenschweren Jahres.
Laut Zählungen der US-Nachrichtenwebsite "Axios" hatte Pjöngjang bereits Mitte Oktober mehr Raketen gezündet als jemals zuvor, der US-Nachrichtenagentur AP zufolge waren es mehr als 70. Erst vergangene Woche waren die Gemüter erneut hochgekocht, als erstmals seit fünf Jahren nordkoreanische Drohnen über die Grenze flogen. Die Südkoreaner reagierten mit Warnschüssen. Dieses "Wie du mir, so ich dir"-Prinzip mag auf diesem Niveau noch funktionieren. Eine Stufe höher droht bereits eine Kettenreaktion, deren Ausmaß selbst den Ukraine-Krieg erblassen ließe.
Dass das Regime offenbar jede Scheu verloren hat, liegt an neuen, alten Freunden. Denn seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hat sich die Führung um Machthaber Kim immer näher an Moskau und an dessen ungleich mächtigeren gemeinsamen Freund Peking orientiert. Mit zwei ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats auf der Kurzwahltaste hatte Pjöngjang wenig echte Konsequenzen zu fürchten. Die Versuche der UN, den Aggressor wegen der illegalen Tests noch schärfer zu sanktionieren, entpuppten sich somit immer wieder als leere Drohungen.
Für Stalin war der Katjuscha-Raketenwerfer die Göttin des Krieges

Dabei galten vor nicht allzu langer Zeit die nordkoreanischen Muskelspiele noch als lautes, aber letztlich halbherziges Knurren. Das hat sich spätestens im September 2022 geändert. Damals hatte die Parteiführung einen atomaren Erstschlag per Gesetz für zulässig erklärt. Das bedeutet, dass man sich in der Parteizentrale auch bei konventionellen Bedrohungen nicht davor scheut, den roten Knopf zu drücken. "Pjöngjang sieht seine Atomwaffen nicht mehr nur zur Vergeltung eines Angriffs, sondern auch zum Gewinnen eines begrenzten Konflikts als nützlich an", analysiert das US-Fachmagazin "Foreign Policy". Mit anderen Worten: Kim sägt mit voller Absicht auf dem ohnehin schmalen Ast, auf dem beide Nationen sitzen. Er glaubt offenbar, er lande weicher als seine Nachbarn.
Henne-Ei-Prinzip: Welche Seite hat zuerst gezündelt?
Als Reaktion auf die ausufernden Raketentests hatten die USA und Südkorea die zwischenzeitlich stark eingeschränkten gemeinsamen Militärübungen in vollem Umfang wieder aufgenommen. Dass sich auch Japan inzwischen wieder an großangelegten Marinemanövern beteiligt, spricht angesichts der historisch frostigen Beziehungen zwischen Tokio und Seoul Bände. Die einstigen Feinde eint nicht nur die gemeinsame Bedrohung aus dem Norden, sondern auch die Befürchtung, die USA könne sich aus Eigenschutz aus der Region zurückziehen. "Washington sollte sein Bekenntnis zu seiner erweiterten Abschreckungsgarantie bekräftigen und sich gleichzeitig gegen das wachsende Engagement Südkoreas für die Entwicklung eigener Atomwaffen wehren", heißt es dazu in einem Beitrag der US-Denkfabrik "Heritage Foundation".
Stattdessen wird weiter fleißig gedroht. Noch am Sonntag hatte das südkoreanische Verteidigungsministerium (erneut) betont, dass jeder Versuch Nordkoreas, Atomwaffen einzusetzen, "zum Ende der Regierung Kim Jong Un führen wird". Ähnliches war bereits zuvor vonseiten des US-Militärs zu hören gewesen.
Diktator Kim wirft den USA und Südkorea seinerseits vor, sein Land militärisch maximal unter Druck setzen zu wollen. Washington und Seoul würden schließlich selbst mit Atomwaffen hantieren und gemeinsam mit den Japanern einen regionalen, Nato-ähnlichen Militärblock zu bauen. Kurzum: Die USA seien schuld an diesem neuen Kalten Krieg. Da drängt sich die Frage auf: Was war zuerst? Das Huhn oder das Ei? Vermeintliche Provokation oder Raketentest? Kims Vorwürfe erinnern dabei auffalend an Wladimir Putins Rechtfertigung für den Überfall auf die Ukraine. Auch Moskau fühlte sich von einem westlichen Militärbündnis in die Ecke und letztlich zum Äußersten getrieben und deutete Einmarsch ins Nachbarland als Präventivschlag um.
Verhandlungsklima bleibt eisig
Die Verhandlungen zwischen den verfeindeten Nachbarn liegen inzwischen seit vier Jahren auf Eis. Das Weiße Haus hatte im vergangenen Jahr mehrfach zaghaft die Hand in Richtung Pjöngjang ausgestreckt – die wurde allerdings immer wieder ausgeschlagen. Aus nordkoreanische Sicht will man erst dann an den Verhandlungstisch zurückkehren, wenn die als feindselig empfundene Politik Washingtons und seiner Partner ende. Sprich: Wir reden erst, wenn ihr die Sanktionen massiv zurückschraubt und eurerseits mit den Muskelspielchen aufhört. Noch im September hatte Kim angekündigt, dass es ungeachtet der Wirtschaftssanktionen der internationalen Gemeinschaft "absolut keine Denuklearisierung, keine Verhandlungen und keinen Tauschhandel" geben werde. Kompromissbereitschaft klingt anders.
Aus Sicht der Führung sind die Atomwaffen nicht nur der Schild gegen alles vermeintlich Böse aus dem Süden, beziehungsweise aus dem Westen. Laut einem Bericht der US-Nachrichtenagentur AP sind sich viele Experten sicher: Mit seinen Aufrüstungsplänen will sich Kim vor allem eine neue, stärkere Verhandlungsposition erschließen. Der Gedanke: Je größer der Sprengstoffhaufen, auf dem er sitzt, desto "kompromissbereiter" dürfte man sich in Washington zeigen.
In Seoul sieht man das offenbar umgekehrt nicht großartig anders: Präsident Yoon Suk Yeol will sein Land stärker in das nukleare Abschreckungssystem der USA einbinden. Man rede bereits über gemeinsame Planungen und Übungen, was die nuklearen Fähigkeiten betreffe, sagte Yoon am Montag in einem Interview der südkoreanischen Zeitung "Chosun Ilbo". Das Prinzip der "erweiterten Abschreckung", wonach Washington im Fall der Fälle Südkorea auch unter Einsatz von Atomwaffen verteidigen würde, reiche vielen Südkoreanern einfach nicht mehr.
Dass die seit 1945 getrennte Nation in diesem Jahr zumindest einen halben Schritt aufeinander zugeht, bleibt folglich gelinde gesagt unwahrscheinlich. Einen Friedensvertrag gibt es ohnehin bis heute nicht – dabei dürfte es auch vorerst bleiben. So, wie sich die Dinge gerade darstellen, wäre das mittlerweile schon ein Erfolg.
Quellen: "Washington Post"; "Associated Press"; "Heritage Foundation"; "Foreign Policy"; mit dpa