Gipfel in Neu Delhi Olaf Scholz mit Augenbinde bei G20: Tut schon nicht mehr weh!

Neu Delhi: Bundeskanzler Olaf Scholz wird beim G20-Gipfel von Narendra Modi, Premierminister von Indien, empfangen.
Neu Delhi: Bundeskanzler Olaf Scholz wird beim G20-Gipfel von Narendra Modi, Premierminister von Indien, empfangen.
© Kay Nietfeld / DPA
Juckende Wunde, mitfühlende Kollegen, schwierige Verhandlungen – der deutsche Kanzler blickt zufrieden auf die politischen Ergebnisse des Gipfels in Delhi.

Die Augenbinde des Kanzlers nervt ihn manchmal kolossal, ist aber immer gut für einen Smalltalk – auch in Indien. Premierminister Narendra Modi spricht Olaf Scholz gleich darauf an, als er ihn am Samstag auf dem G20-Gipfel in Delhi offiziell begrüßt. Scholz liefert lächelnd eine kurze Erklärung und zieht dann weiter in die Leader’s Lounge zu den anderen Staats- und Regierungschefs.

Der Kanzler wird noch einige Male an diesem Tag die Geschichte seines Sturzes beim Joggen erzählen: guten Freunden wie Joe Biden, Justin Trudeau oder Rishi Sunak zum Beispiel, aber vielleicht auch schwierigen Zeitgenossen wie dem ägyptischen Präsidenten al-Sisi oder dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. So ist das bei G20-Gipfeln, man hat es, freundlich gesagt, mit einer bunten Mischung an Staats- und Regierungschefs zu tun. Doch nicht zuletzt von seiner Vorgängerin Angela Merkel hat Scholz die nüchterne Haltung übernommen, dass man mit denen reden muss, die eben da sind.

Indiens Premierminister wünscht "speedy recovery"

G20 in Delhi. Und wieder geht es nicht nur, aber vor allem um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Er belastet zuerst die Ukraine, aber in der Folge auch die Weltwirtschaft und wegen der stockenden Getreideausfuhren viele arme Länder. Deshalb ist es der dominante internationale Konflikt, auch wenn viele Staaten des globalen Südens gerne ganz andere Prioritäten setzen würden.

Vor einem Jahr auf der indonesischen Insel Bali waren Scholz und seine Leute sehr zufrieden gewesen mit der gemeinsamen Abschlusserklärung, in der es hieß, dass "die meisten" Staaten den Krieg verurteilten. Übersetzt hieß das damals "alle Staaten", außer Russland und China. Diesmal ist lange Zeit nicht klar, ob es überhaupt eine gemeinsame Erklärung geben wird.

Während die Gespräche laufen, ist der deutsche Kanzler ein Blickfang. Als Premierminister Modi Scholz in großer Runde erstmals das Wort erteilt, würdigt er ausdrücklich, dass Scholz trotz seiner Verletzung am Gipfel teilnehme. Er wünsche ihm "speedy recovery", eine schnelle Genesung. Olaf Scholz soll daraufhin, heißt es aus seiner Delegation eine abwinkende Handbewegung gemacht haben: Tut schon nicht mehr weh.

Lawrow stolpert über die Kante des roten Teppichs

Wladimir Putin ist nicht nach Delhi gekommen, niemand hatte ernsthaft damit gerechnet. Sein Außenminister Sergei Lawrow macht gleich in zweierlei Hinsicht keine gute Figur. Erst legt er sich beinahe auf dem roten Teppich lang, kann sich aber nach einem Stolperer gerade noch auffangen. Er könnte nun rein theoretisch mit Olaf Scholz übers Straucheln fachsimpeln, aber der Kanzler verweigert ihm, wie Scholz selbst später erzählt, sowohl Händedruck wie auch jede Unterhaltung. Außerdem sieht Lawrow auch bei seinem Statement im Kreis der Staats- und Regierungschefs nicht gut aus, jedenfalls wenn man dem Kanzler glauben darf. Lawrow habe zur Ukraine "die üblichen Erzählungen" vorgelesen, berichtet Scholz in einer Mischung aus Spott und Verachtung. "Ich glaube niemand im Raum hat sie geglaubt."

Die Ein-Mann-Show des indischen Premiers Modi

Eine möglichst gemeinsame Sprache zur Ukraine zu finden, ist vornehmlich die Aufgabe der indischen Präsidentschaft. Gegenüber Premierminister Modi ist Scholz in einer Hinsicht mit seiner Binde fast so etwas wie eine Symbolfigur: Denn ein Auge muss man mindestens zudrücken, um Modis hindu-nationalistischen Kurs geflissentlich zu übersehen, mit dem er sein Land seit 2014 führt. Kritiker verurteilen die Benachteiligung von religiösen Minderheiten als eine Gefahr für die Vielfalt des Landes, in Modis Härte sehen sie ein Risiko für die politische Stabilität und in Zensur und Gewalt gegen Kritiker den Beweis, dass Indien seine Bezeichnung als größte Demokratie der Welt verwirke.

Aber Modi ist als Regierungschef des inzwischen bevölkerungsreichsten Landes eben auch ein bedeutsamer internationaler Akteur. Der Premier, dessen Konterfei mit hehren Formeln zur Rettung der Welt tausendfach in den Straßen Delhis plakatiert ist, hat alles darauf ausrichten lassen, sich und seine Wichtigkeit zu präsentieren, als Staatsmann, der keinem Lager angehört, sondern mit allen gut kann. Eine Art globaler Vermittler, so sieht er sich. Indien wolle "die Welt zusammenführen", wird aus Modis Eingangsstatement zu Beginn des Gipfels zitiert.

Der Gipfel ist also auch eine große Werbe-Show. In den indischen Nachrichtensendern sind von morgens bis abends nur Bilder von Modi zu sehen: Modi beim Handshake mit Joe Biden, Modi bei der Umarmung des indisch-stämmigen Rishi Sunak, Modi mit Lula da Silva, mit Erdogan, mit Meloni, natürlich auch mit Scholz, Modi, Modi, Modi. Ein politischer Analyst schwärmt in einer der Liveübertragungen, der indische Premier sei wahrscheinlich der beliebteste Staatsmann der Welt.

Warum der chinesische Präsident nicht gekommen ist

Umso heftiger wirkt die diplomatische Brüskierung des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, der seine Teilnahme wenige Tage vor Beginn des Gipfels abgesagt hat. Dass Xi sich von seinem Premierminister Li Qiang vertreten lässt, gilt als gezielter Versuch, dem politischen und ökonomischen Rivalen in Asien das Großereignis zu vermiesen. Entsprechend distanziert zeigt sich Modi denn auch bei der Begrüßung Lis.

Aus der politischen Perspektive des Kanzlers, die - anders als sein natürliches Blickfeld - von der Augenbinde ungetrübt ist, vollzieht sich in Delhi eine weitere Verschiebung der globalen Machtverhältnisse. Unmittelbar nach Beginn des Gipfels nehmen die G20 die Afrikanische Union in ihren Club auf. Die AU, die 55 Staaten zählt, erhält damit denselben Status wie die Europäische Union. Indien hatte auf diese Erweiterung gedrängt, Scholz hat sie unterstützt. Es entspricht seiner Vorstellung, mit den Entwicklungs- und Schwellenländern auf Augenhöhe zu sprechen, auch wenn es derzeit aus deutscher Sicht nur ein Auge ist.

Was tun, wenn das Auge juckt?

Für Scholz ist die neue Weltordnung eines der dominanten Themen seiner Kanzlerschaft geworden. Auf mehreren Reisen hat er seit dem russischen Überfall auf die Ukraine aber auch erlebt, dass einflussreiche Staaten wie Südafrika, Brasilien oder Indien die Position des traditionellen Westens auf den Krieg nicht teilen und ihre vor allem wirtschaftlich oft engen Beziehungen mit Russland nicht aufs Spiel setzen wollen. Es war der Außenminister des G20-Gastgeberlandes Indien, Subrahmanyam Jaishankar, dessen Satz bei Scholz schweren Eindruck hinterließ, Europa müsse sich von seiner bisherigen Vorstellung verabschieden, dass seine Probleme die Probleme der ganzen Welt seien, die Probleme der Welt Europa aber nichts angingen. Der Kanzler ist bemüht, sich auf diese Argumente einzulassen.

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© Foto: Twitter/Markus_17x

Am Ende gelingt es dann doch, eine gemeinsame Erklärung aufzusetzen. Sie ist allgemeiner gefasst als auf Bali, trotzdem findet Scholz, es seien "erneut klare Worte gefunden worden". Man habe festgehalten, dass die territoriale Integrität eines Staates nicht mit Gewalt infrage gestellt werden könne. Er bezieht das klar auf die Ukraine. Russland und China stimmen dem Papier am Ende zu, über das in den vergangenen Wochen und Monaten intensiv verhandelt worden war. Moskau dürfte argumentieren, dass es auf der Krim und im Donbass keine territoriale Integrität verletze, sondern russisches Gebiet verteidige. Es ist – ein Klassiker der Diplomatie – eine Formulierung, aus der jede Seite gerade noch herauslesen kann, was sie braucht.

Eine Woche nach seinem Unfall hat Scholz inzwischen Routine im Umgang mit der Augenbinde entwickelt. Gelegentlich prüft er den Sitz des Gummizugs am Hinterkopf, hie und da zieht er den Abdeckstoff vom Auge weg, um Luft an die Wunde zu lassen. Und wenn es am Ende eines langen Tages mal zu sehr juckt, reibt er sich auch mal mit dem Zeigefinger direkt übers Auge.

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