Mister Clarke, Ihre Landsleute wählen heute ein neues Parlament. Und eines der beherrschenden Themen war des Wahlkampfs war Immigration. Können Sie uns erklären, warum sich Ihre Landsleute mit Europa so schwer tun?
Zunächst mal: Ich bin kein großer Freund von Referenden. Referenden gefährden meines Erachtens die Stabilität eines Landes, selbst das schottische Referendum hat das getan. Aber es ist richtig. Wenn David Cameron die Wahlen gewinnt, wird es eine Abstimmung geben. Ich hoffe allerdings inständig, dass dieses Referendum schneller kommt als 2017. Zwei Jahre lang diese bizarren Argumente anzuhören, wäre für mich kaum erträglich. Im Übrigen glaube ich, dass die Mehrheit der Briten für den Verbleib in der EU stimmen wird. Und kann nur hoffen, dass die Debatte zivilisiert verläuft. Das wird schwer genug.
Was ist daran so schwer? Die reinen Fakten sprechen für sich. Wir zitieren: "Ein Austritt aus der EU wäre für Großbritannien ein Desaster." Sagte wer?
Sagte ich. Aber es geht hier ja nicht allein um Fakten, so einfach ist das leider nicht. Der Großteil der britischen Presselandschaft ist im Gegensatz zu früher stark anti-europäisch eingestellt. Das war Mitte der 70er Jahre bei der letzten Abstimmung noch anders. Die Verleger sind mittlerweile anti-europäisch und nehmen inhaltlich starken Einfluss. Die Zeitungen sind moderne Kampagnen-Vehikel. Die picken sich ihre Wahrheit heraus. Erinnern Sie sich an die Debatte um Rumänen und Bulgaren vor einem Jahr?
Zur Person
Ken Clarke, 74, ist einer der profiliertesten Politiker Großbritanniens. Er war als konservativer Minister (Justiz- und Finanzen) unter Margaret Thatcher und John Major. Vor seinem Rücktritt im Sommer 2014 gehörte er auch dem Kabinett von David Cameron an, obwohl beide sich als politische Gegner betrachten.
Als die Anti-Europa-Partei UKIP unkte, dass mit den offenen Grenzen nun Millionen Osteuropäer im Anmarsch seien und die Cliffs von Dover überrennen würden ...
Und wissen Sie viele Rumänen am 1. Januar dann wirklich in Großbritannien ankamen?
Einer.
Genau! Ein Rumäne. Ich dachte, damit wäre dieses absurde Gerede vorüber oder würde endlich verpuffen. Aber nein. Es geht weiter. Ich erzähle gern, dass mehr Briten in Deutschland von der Wohlfahrt leben als umgekehrt. Dann staunen die Leute immer. Aber Eingang in die Presse findet so was fast nie.
Aber werden Parteien wie UKIP nicht implodieren, weil die Leute merken, dass hinter dem Programm nichts steckt?
Welches Programm? UKIP hat gar kein Programm. Die Menschen wählen kein Programm. Es spielt auch keine Rolle, von wo diese Ideen kommen, links oder rechts. Die Anziehungskraft ist ähnlich, nur die Plattform unterschiedlich. Die Sprüche sind austauschbar. Alle Politiker sind gleich, es ist ergo egal, für wen du wählst und so weiter. Ich mache mir große Sorgen um die jungen Leute, die offenbar zunehmend die Lust verlieren. Aber machen wir uns nichts vor: Das ist längst kein rein britisches Problem mehr. Wir leiden unter der gleichen Malaise wie fast jedes westliche demokratische Land.
Sie meinen damit den Aufschwung der Populisten in ganz Europa?
Nicht nur in Europa. Das begann mit dem alten Le Pen in Frankreich und mit der Tea Party in den USA und breitet sich nun aus. Wie eine Krankheit. Die Volksparteien verlieren zusehends die Fähigkeit, Enthusiasmus zu entfachen. Deshalb erleben wir nun überall diese Proteste gegen das so genannte Establishment. Und deshalb legen diese merkwürdigen Parteien und Randgruppen zu. Offenbar ja nun leider auch in Deutschland. Wie heißen die noch mal in Dresden?
Pegida.
Ach, ja, richtig. Das Grundmuster ist identisch: Wut und Unzufriedenheit. Die Leute sind müde von Sparprogrammen, Kürzungen und Beschränkungen. Sie vertrauen uns nicht mehr und verlangen nach schnellen, einfachen, eskapistischen Lösungen. Selbst wenn die Probleme noch so komplex sind. Im England des 18. und 19. Jahrhunderts konnten die Demagogen den Mob leicht aufwiegeln, in dem sie ihm zuriefen: 'Alles Schuld der Ausländer.' Was wir zur Zeit erleben, ist ein modernes Äquivalent.
Warum findet die Politik keine Antwort auf die Demagogen?
Ich glaube, das hat viel mit der modernen Kampagnen-Politik zu tun. Die Medien haben sich verändert und die Politik damit auch. Das Tempo ist extrem hoch, und die Agenda ändert sich fast täglich in einem fast hysterischen Ausmaß. Die Politiker werden von den Ereignissen vor sich hergetrieben...
Oder lassen sich treiben?
Gewiss auch. Margaret Thatcher las zum Beispiel nie eine Zeitung. Sie interessierte sich auch nicht für Meinungsumfragen. Sie hat sich einfach nicht drum geschert. Und wir lagen in den Umfragen immer hinten, deutlich sogar. Hat ihr das geschadet? Nein. Sie war klar und unbeirrt, liebte den politischen Zweikampf und lieferte Ergebnisse. Man konnte sich wunderbar mit ihr streiten, und das habe ich auch mit großem Spaß getan. Heute ist alles engstirniger und Umfragen-getrieben. Was mögen die Leute nächste Woche? Was müssen wir dafür tun? Im Prinzip herrscht ein Klima ständigen Wahlkampfs.
Erklärt das, warum man gerade während des Wahlkampfs hier das Gefühl hat, dass es bis auf wenige Ausnahmen keine großen Figuren gibt?
Nun, es war ja auch leichter damals. Es gab noch nicht diese Invasion von Klatsch und diesen Promi-Kult, es ging im klassischen Sinne um Politik und um Sachfragen. Die Wähler waren in ihren Ansichten eindeutiger und berechenbarer. Es gibt außerdem nach wie vor sehr gute und fähige Politiker. Ich bin ein großer Anhänger von Merkel. Sie ist allen politischen Führern in Europa um Längen überlegen. Und eben auch klar und unbeirrt in ihren Ansagen. Sie hat ja auch sehr deutliche Worte gefunden gegen diese ... , na ...
Pegida.
Danke.
Wünschten Sie sich eine ähnlich klare Position auch von Ihrem Premier David Cameron?
Tja, wünschen schon. Ist vielleicht ein bisschen spät dafür. Aber ich hoffe, er macht es.
Was macht Sie so sicher, dass es im Falle eines Referendums nicht doch zum EU-Austritt kommt?
Weil wir natürlich die besseren Argumente haben. Wir müssen sie nur rüberbringen. Europa ist selbstverständlich der Schlüssel für das Wohlergehen Großbritanniens in der Zukunft. Wir würden an Stellenwert bei unseren Alliierten und an Standing in der Welt verlieren. Wenn Sie sich hier in London in der City mit führenden Wirtschaftsleuten unterhalten, stellen Sie fest, dass 90 Prozent von denen auch pro EU sind.
Die hört man aber kaum.
So ist es. Sie warten auf eine Ansage der Politiker. Und die Politiker warten darauf, dass sich die Wirtschaftsleute äußern. Einer müsste mal den Anfang machen.
Vielleicht warten sie die Wahlen ab.
Schon möglich.
Wie lautet Ihre Prognose für den Ausgang: Cameron oder Miliband, Tories oder Labour?
Es ist die am schwierigsten vorauszusagende Wahl in meiner gesamten politischen Karriere. Völlig offen. Jeder, der behauptet, er könne das Ergebnis halbwegs korrekt voraussagen, erfüllt die klassische Definition eines Idioten. Sagen wir so, ich halte die Möglichkeit eines Parlamentes ohne klare Mehrheit für nicht gerade unwahrscheinlich.