Ist der Tod von Richterinnen-Ikone Ruth Bader Ginsburg schon die berüchtigte, wenngleich verfrühte "Oktober-Überraschung", diese Laune des Schicksals, die US-Präsidentschaftswahlen schon häufiger durcheinanderwirbelt hat? Das Ableben der linksliberalen Verfassungsjuristin und die Neubesetzung ihres Postens jedenfalls bringt zusätzlichen Zunder in den Wahlkampf. Denn die Besetzung von Obersten Richtern ist einer der prestigeträchtigsten Aufgaben eines US-Präsidenten. Im Fall des vakanten Sitzes kommt hinzu, dass die designierte Nachfolgerin die Stimmung im Obersten Gericht zugunsten der Abtreibungsgegner kippen könnte – und ihre Ernennung den ohnehin schon verbissen geführten Kulturkampf in den USA weiter verschärfen dürfte.
Am Freitag oder Samstag will Donald Trump seine Nominierung für den freigewordenen Richtersitz bekannt geben, wie er dem Sender Fox News sagte. Ziel sei es, dass der Senat, der den Personalvorschlag bestätigen muss, dies noch vor der Wahl am 3. November erledigen kann. Vor allem zwei Namen sind derzeit im Gespräch: Amy Coney Barrett, konservative Bundesrichterin zuständig für die Bundesstaaten Illinois, Indiana und Wisconsin. Daneben wird auch Barbara Lagoa gehandelt, ebenfalls Bundesrichterin, zuständig für Florida, Alabama und Georgia.
Donald Trump wird eine Richterin nominieren
Die Besetzung des Obersten Gerichts ist in den USA von höchster politischer Brisanz. Wegen der starken Polarisierung des Landes hat der Supreme Court häufig in Schlüsselfragen - von der Abtreibung über den Waffenbesitz bis zur Todesstrafe - das letzte Wort. Donald Trump wird seine Kandidatin daher auch mit Blick auf die Präsidentschaftswahl auswählen. Dass der freigewordene Richterstuhl an eine Frau gehen wird, hat nicht nur mit Vorgängerin Ginsburg zu tun, sondern wird auch Signal an die weibliche Wählerschaft gewertet. Für Amy Coney Barett spricht dabei, dass sie als siebenfache Mutter sowohl dem traditionellen als auch dem modernen Frauenbild entspricht. Barbara Lagoa wiederum dürfte als kubanischstämmige Juristin Latinos überzeugen, Trump zu wählen – in beiden Wählergruppen hat der US-Präsident Aufholbedarf.
Wer auch immer zur Richterin ernannt werden wird, sicher ist schon jetzt, dass sie einen sich abzeichnenden Showdown mitentscheiden wird: den Kampf um Abtreibung. Seitdem der US-Supreme Court 1973 Schwangerschaftsabbrüche legalisiert hat, versuchen konservative und religiöse Kräfte die Entscheidung rückgängig zu machen. Barett und Lagoa gelten, wie die allermeisten auf Trumps Richterliste, als Abtreibungsgegner – und ihre Berufung würde die konservative Mehrheit am Obersten Gerichtshof auf dann 6:3 Richter erhöhen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Verfassungsrichter das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche kippen oder einschränken werden, wird sich dann deutlich erhöhen.
Joe Biden bittet vergebens um Verschiebung
Die oppositionellen Demokraten sind entsprechend alarmiert. Präsidentschaftskandidat Joe Biden hat deshalb eindringlich an den Senat appelliert, nicht mehr vor der Wahl über die Ginsburg-Nachfolge abzustimmen. Das Vorhaben Trumps, den vakanten Posten möglichst schnell mit einem konservativen Nachfolger zu besetzen, kritisierte Biden als "Machtmissbrauch". Donald Trump aber ficht das nicht an: "Die abschließende Abstimmung sollte vor der Wahl stattfinden. Wir haben jede Menge Zeit dafür", sagte er.
Die nötige Mehrheit für eine rasche Neubesetzung jedenfalls haben die Republikaner im Senat. Zwar haben zwei konservative Senatorinnen die Forderung der Demokraten übernommen, um die Anhörung zu verlegen, doch das würde nicht reichen, das Verfahren zu verlangsamen. Der Rest ihrer Kollegen steht ohnehin wie eine Eins hinter dem Präsidenten. Die zwei, drei weiteren trump-kritischen Republikaner im Senat haben bereits angekündigt, die Ginsburg-Nachfolge noch vor der Wahl abzusegnen. Selbst eine moralische Erinnerung an das Jahr 2016 wird die Konservativen kaum von ihren Plänen abbringen.
2016 sollte erst gewählt und dann nominiert werden
Vor vier Jahren sollte Obamas Kandidat Merrick Garland dem verstorbenen Richter Antonin Scalia folgen. Doch Mitch McConnell, damals wie heute Mehrheitsführer, lehnte die Anhörung mit der Begründung ab, in einem Wahljahr keine neuen Richter zu ernennen. "Das Volk soll erst den Präsidenten und damit indirekt auch die Nachfolge am Gericht bestimmen", sagte er damals. Jetzt, in exakt der gleichen Situation, will McConnell davon nichts mehr wissen.
Diese machtpolitische Rücksichtslosigkeit empört einige Demokraten so sehr, dass sie ebenfalls unverhohlen mit rabiaten Mitteln drohen. So gibt es bereits die Idee, das Oberste Gericht zu vergrößern und die neuen Sitze an liberale, ihnen genehme Richter zu vergeben. Joe Biden allerdings hat dem Gedankenspiel allerdings schon widersprochen. Nicht jedoch Chuck Schumer, oberster Demokrat im Senat: "Wir müssen erst die Mehrheit im Senat gewinnen", sagte er, und sollte das gelingen, würden sich die Demokraten alle Optionen offenhalten. Unterstützung bekommt er von der linken Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez: Sie rief dazu auf, alle verfügbaren Möglichkeiten auszuschöpfen, um eine schnelle Nachbesetzung im Obersten Gericht zu verhindern. Wie? Bleibt vorerst offen.
Quellen: DPA, AFP, "Politico", "The Hill", Heritage.org, "The Guardian", Politifact