Beschuss ziviler Infrastruktur Putins brutales Bombardement ist ein Zeichen seiner "Machtlosigkeit", meinen Analysten

Russlands Präsident Wladimir Putin
Russlands Präsident Wladimir Putin
© Sergei Bobylev/Pool Sputnik Kremlin/AP / DPA
Wladimir Putin lässt es Raketen regnen. Es ist eine weitere Eskalation der russischen Kriegshandlungen in der Ukraine – und ein zynischer Offenbarungseid, so Experten. 

Das wahllose wie verheerende Bombardement zahlreicher ukrainischer Städte markiert möglicherweise einen Wendepunkt in der russischen Kriegsführung, die zuletzt durch mehrere Misserfolge an der Front geprägt war, meinen Analysten. 

Nach der für Präsident Wladimir Putin demütigenden Detonation auf der strategisch wie symbolisch wichtigen Krim-Brücke, reagierte Moskau mit massivem Beschuss auf zivile Infrastuktur. Ukrainischen Angaben zufolge sind dabei zahlreiche Zivilisten getötet oder verletzt worden.

Wohnhäuser, Fußgängerbrücken und Straßenkreuzungen wurden zerstört. Insbesondere die Energieinfrastruktur des Landes, von der nach ukrainischen Angaben seit Montag rund 30 Prozent durch russische Raketen getroffen worden sei, wurde ins Visier genommen. Ausfälle in der Strom- und Wasserversorgung waren die Folge. 

Der breitflächige Beschuss gilt als größter Angriff auf ukrainisches Gebiet, das fernab der Frontlinien liegt, seit Monaten. Militärstrategen und -analysten werten die Brutalisierung der Kampfhandlungen einerseits als Versuch, die ukrainische Regierung und Zivilbevölkerung zu zermürben. Der Winter steht bevor, Angriffe auf die kritische Infrastruktur wiegen besonders schwer.

Andererseits sollen die verstärkten Raketenangriffe offenbar das Eskalationspotenzial der russischen Streitkräfte demonstrieren, die von ukrainischen Gegenoffensiven derzeit Gebiet um Gebiet zurückgedrängt werden und damit Unmut unter glühenden Kriegsbefürwortern schürten, die ihre Kritik gegenüber der Militärführung des Kreml immer lauter äußern. 

Wie weit kann Wladimir Putin noch eskalieren?  

Zuletzt konnte die ukrainische Armee mehrere Gebiete von den Besatzern zurückerobern, darunter den Nordosten der Region Charkiw und die strategisch wichtige Stadt Lyman, während die russischen Erfolge auf dem Schlachtfeld stagnieren. 

Der jüngste Raketenbeschuss hat nach Ansicht von Experten daher geringen militärischen Wert für Russland, hätten die Angriffe insbesondere Zielen gegolten, die nicht an der umkämpften Front verlaufen.

Der pensionierte US-Oberstleutnant Alexander Vindman sagte, dass Putin durch Angriffe auf Ziele, die der ukrainischen Moral und der Energieinfrastruktur schaden sollen, eine Botschaft seien, wie er den Krieg in den kommenden Monaten fortsetzen könnte.

"Er (Russlands Präsident Putin) hat telegrafiert, wohin er gehen wird, wenn wir in den Winter kommen", sagte Vindman zum US-Sender CNN. "Er wird versuchen, die ukrainische Bevölkerung zu Kompromissen zu zwingen, Territorien aufzugeben, indem er diese Infrastruktur angreift." 

Doch Putins Botschaft, dass er zu einer weiteren Eskalation des Krieges bereit ist, birgt auch Risiken für den russischen Präsidenten: Wie weit kann er die Lage noch eskalieren – bis zur größtmöglichen Eskalation?

Am Samstag ernannte er Sergej Surowikin zum neuen Kriegschef des Kreml. Surowikin ist für sein brutales Vorgehen berüchtigt (lesen Sie hier mehr dazu). Kurz darauf erklärte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko, ein treuer Verbündeter Putins, eine gemeinsame Militäreinheit mit Russland zu bilden, was Sorgen vor einem möglichen Einmarsch in die Nordukraine schürt. Nun das breitflächige Bombardement auf weite Teile des Landes.  

Nach Ansicht des russischen Politikwissenschaftlers Vladimir B. Pastukhov laufen Putins Eskalationen "seiner eigenen Intuition zuwider" und Schränken seine politischen Optionen ein, indem sie ihn in die Enge trieben. "Alle heutigen Aktionen Putins zielen darauf ab, aus dieser Ecke herauszukommen, aus der der einzige Ausweg der Nuklearknopf ist", sagte Pastukhov zur "New York Times". "In gewisser Weise erhöht das, was gerade passiert ist, wirklich die Risiken für ihn."

Hintergrund sind die wiederholten Warnungen Putins, im Krieg gegen die Ukraine "alle zur Verfügung stehenden Mittel" nutzen zu wollen, sollte die "territoriale Integrität" Russlands bedroht werden. Putins Drohungen erfolgten kurz vor der illegalen Einverleibung weiterer ukrainischer Gebiete, die nach russischer Rechtslage nun vollzogen ist. Im Westen wurden seine Worte als bislang deutlichste Drohung mit einem Atomwaffeneinsatz gelesen. 

US-Präsident Joe Biden sprach in diesem Zusammenhang von einem drohenden "Armageddon" und zog einen Vergleich zur Kuba-Krise im Kalten Krieg. Die ungewöhnlich deutliche Wortmeldung wurde als vage, aber unmissverständliche Warnung an Moskau gelesen, die ganz im Sinne der Abschreckungspolitik steht (mehr dazu lesen Sie hier).

In einem Interview mit CNN vom Dienstag wiederholte Biden nun seine Warnungen vor einem drohenden nuklearen Schlagabtausch. Er nannte Putin einen "rationalen Akteur", der aber irrationale Ziele in der Ukraine verfolge. Der russische Präsident habe sich "völlig verkalkuliert", so Biden. Er glaube allerdings nicht, dass der russische Präsident seine Drohungen zum Einsatz von Atomwaffen wahr machen könnte. 

"Die Reaktion sollte Macht zeigen, aber tatsächlich zeigte sie Machtlosigkeit"   

Doch der (Erfolgs-)Druck auf den russischen Präsidenten ist infolge mehrerer Misserfolge während der "Spezialoperation" gewachsen, wie der Krieg offiziell in Russland genannt wird. Insbesondere die Explosion auf der Krim-Brücke – nicht zuletzt Manifest für Russlands imperialistischen Anspruch – hatte Kritik unter kremltreuen Kriegsbefürworter hervorgerufen, die seit Langem eine Brutalisierung der Kampfhandlungen fordern.

Dass es Putin nun Raketen regnen lässt, wird daher auch als Machtdemonstration gewertet – nicht nur an die Ukraine und den Westen, sondern auch an Putins heimisches Publikum.

"Dies ist vor allem aus innenpolitischer Sicht wichtig", sagte Abbas Gallyamov zur "New York Times", ein russischer Politologe und früherer Redenschreiber von Putin. "Es war wichtig, der herrschenden Klasse zu zeigen, dass Putin immer noch fähig ist, dass die Armee immer noch für etwas gut ist." 

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Putin setze darauf, dass sowohl die russischen Eliten als auch die breite Öffentlichkeit die Eskalation als Zeichen der Stärke sehen würden – und nicht als Verzweiflungstat infolge der reihenweisen Rückschläge für das russische Militär. "Die Reaktion sollte Macht zeigen, aber tatsächlich zeigte sie Machtlosigkeit", so Gallyamov. "Die Armee kann nichts anderes tun."

Zumindest der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow zeigte sich nach den Luftschlägen besänftigt. "So, jetzt bin ich zu 100 Prozent zufrieden mit der Durchführung der militärischen Spezialoperation", erklärte er. Inmitten der militärischen Misserfolge war Kadyrow zum Generaloberst befördert worden, den dritthöchsten Dienstgrad der Kreml-Armee. Zuvor hatte der Tschetschenenführer, der sich gern als Putins "Bluthund" inszeniert, deutliche Kritik an der militärischen Führung geübt.

Ob Putins Eskalation die Hardliner auch langfristig besänftigen wird, bleibt jedoch abzuwarten. So hatte etwa Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew nach der schweren Explosion auf der Krim-Brücke die "direkte Vernichtung" der Verantwortlichen gefordert. Schon im Juni kündigte er die Auslöschung der gesamten Ukraine an. Beides lässt sich kaum als Zeichen der Zurückhaltung deuten.

Moskau beschuldigt Kiew hinter der Detonation auf der wichtigen Verbindungsbrücke zwischen dem russischen Festland und der ukrainischen Halbinsel zu stecken, die sich Russland 2014 illegal einverleibt hatte. Die ukrainische Regierung kommentierte den Vorgang zwar mit gewisser Genugtuung, übernahm dafür aber bisher keinerlei Verantwortung. 

Nach dem brutalen russischen Beschuss bemüht sich Kiew um weitere Militärhilfe aus dem Westen, fordert insbesondere Gerät zur Raketenabwehr. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab die Lieferung von Luftverteidigungssystemen nun als Priorität aus.

Laut Olexij Resnikow, dem ukrainischen Verteidigungsminister, sei das System Iris-T aus Deutschland bereits angekommen und Raketenwerfersysteme des Typs Nassaus aus den USA seien unterwegs, teilte er auf Twitter mit. Angesichts der aktuellen Eskalation könnten die Geschütze einen entscheidenden Unterschied machen.

Zu Beginn des Krieges hätten die Ukrainer lediglich bis zu 3 Prozent der russischen Raketen abschießen können, sagte die Militärexpertin Alina Frolova dem "Kyiv Independent". Am Montag hätten von den russischen Luftschlägen schon mehr als die Hälfte vereitelt werden können: Von 84 Raketen und 24 Drohnen seien insgesamt 56 abgeschossen worden, berichtete das Blatt.

"Eine neue Ära der Luftverteidigung hat begonnen", so der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow weiter. "Dies ist nur der Anfang. Und wir brauchen mehr."