Anzeige
Anzeige

Netanjahu in Berlin Ein Land im Rechtsruck – was es mit den Unruhen in Israel auf sich hat

Menge von Demonstranten in Tel Aviv
Menschen demonstrieren im Januar in Tel Aviv gegen die geplante Justizreform der Regierung Netanjahu
© Jack Guez / AFP
Selten dürfte der Besuch eines israelischen Ministerpräsidenten so viel Gegenwind erfahren haben. Der Grund: Unter dem neuen, alten Regierungschef Benjamin Netanjahu erlebt Israel einen massiven Rechtsruck. Kritiker bangen um Israels demokratische Grundordnung.

Inhaltsverzeichnis

Erst in Rom, jetzt in Berlin, bald in London. Während Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf seiner kurzen Europatour Hände schüttelt, hinterlässt er ein zutiefst gespaltenes Land. Ein Überblick. 

Was hat es mit der Justizreform auf sich?

Die rechte Koalition will das israelische Justizsystem umkrempeln, Kritiker sehen darin vielmehr eine Aushöhlung der demokratischen Grundordnung. Konservative Kräfte monieren, die Obersten Richter würden sich allzu oft in politische Entscheidungen einmischen. Nach ihrem Dafürhalten soll eine einfache Mehrheit im Parlament ein Gesetz verabschieden können, auch wenn es nach Ansicht des Höchsten Gerichts gegen das Grundgesetz verstößt. Justizminister Jariv Levin will tatsächlich nicht nur die Zusammensetzung des Gremiums ändern, sondern dem Parlament auch die Kontrolle über die Ernennung der Richter verschaffen. Das Ergebnis wäre die absolute Macht der Mehrheit, womöglich der Beginn des Endes der Gewalteinteilung. 

Die Vorsitzende des Obersten Gerichts in Israel, Esther Chajut sprach im Januar von einem "tödlichen Schlag" gegen die Unabhängigkeit der Richter, ein "hemmungsloser Angriff auf das Rechtssystem, als wäre es ein Feind, der angegriffen und unterworfen werden muss".

Inwiefern erlebt Israel derzeit einen Rechtsruck?

Benjamin Netanjahu steht bereits das sechste Mal an der Spitze der israelischen Demokratie. Doch ist genau diese Demokratie Berichten und Experten zufolge in akuter Gefahr. Um sich die nötige Mehrheit zu sichern, hat sich "Bibi" diesmal auf ein Bündnis mit rechts-religiösen Kräften eingelassen, drunter einige Politiker vom äußersten rechten Rand.

Finanzminister Bezalel Smotrich beispielsweise forrderte kürzlich die "Ausradierung" eines palästinensischen Dorfes. Der in der Vergangenheit wegen rassistischer Aufstachelung und Unterstützung des Terrorismus verurteilte heutige Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, gilt als Hetzer und Anstachler zur Gewalt gegen Palästinenser.

Beobachter glauben, dass Netanjahu mit der Justizreform auf der einen Seite seine neuen, erzkonservativen Partner zufriedenstellen will und muss. Auf der anderen Seite spielten ihm die Gesetzesänderungen auch selbst in die Hände – schließlich dürfte er so einer Verurteilung in einem gegen ihn laufenden Korruptionsverfahren entgehen.

Haben die Proteste etwas bewirkt?

Seit Wochen gehen Zehntausende Menschen in Israel auf die Straße, um gegen die Einschränkung der Justizrechte unter Netanjahus rechtsreligiöser Regierung zu protestieren. Erst am Wochenende hatten bis zu einer halben Million Menschen demonstriert, die Organisatoren sprachen von den größten Straßenprotesten der Landesgeschichte. In den Reihen der Demonstranten sind auch viele bekannte Gesichter, wie etwa der ehemalige Ministerpräsident Ehud Barak, einer der höchstdekorierten Militärs des Landes, Netanjahus Vorgänger und Oppositionsführer Yair Lapid, sowie die ehemalige Justizministerin Tzipi Livni.

Geholfen hat all das bisher nicht – Netanjahus Regierung bleibt stoisch. Bis Ende des Monats will sie die wichtigsten Punkte der Reform durchsetzen. In der Nacht zum Dienstag billigte das Parlament in Jerusalem in erster Lesung Gesetzesänderungen zu mehreren Kernpunkten. Noch sind zwei weitere Lesungen nötig, damit die Änderungen endgültig in Kraft treten. Das Parlament billigte außerdem in erster Lesung eine Gesetzesänderung, die es deutlich schwerer machen soll, einen Ministerpräsidenten für amtsunfähig zu erklären. Dafür wäre künftig eine Dreiviertelmehrheit im Parlament notwendig.

Wie steht es um die israelisch-palästinensischen Beziehungen?

Mit der Besetzung von Schlüsselpositionen durch Rechtsaußen-Politiker war das ohnehin stets angespannte Verhältnis zwischen Juden und Muslimen gefährlich gekippt. Im Dezember hatte die nationalistisch-religiösen Allianz eine Liste von Leitprinzipien veröffentlicht, in denen die Verfasser vom "ausschließlichen und unanfechtbaren Recht des jüdischen Volkes auf alle Gebiete des Landes Israel" schrieben und den verstärkten Siedlungsbau in palästinensischen Gebieten forderten. Die Regierung hat bereits den Bau von mehr als 7000 Siedlungseinheiten im Westjordanland genehmigt, fast doppelt so viele wie im letzten Jahr, berichtet das US-Magazin "Vox".

In den vergangenen Wochen war es zu den gewaltsamsten Auseinandersetzungen seit Langem gekommen. Erst am Sonntag teilte die israelische Armee mit, dass drei bewaffnete Palästinenser in der Nähe der Stadt Nablus im Westjordanland erschossen wurden. Seit Beginn des Jahres wurden 13 Israelis und eine Ukrainerin bei palästinensischen Anschlägen getötet. Im gleichen Zeitraum kamen mehr als 79 Palästinenser ums Leben – sie kamen etwa bei Konfrontationen mit der israelischen Armee oder bei eigenen Anschlägen ums Leben.

Welche Reaktionen gibt es auf Netanjahus geplanten Besuch in Berlin?

Nie war der Besuch eines israelischen Regierungschefs so umstritten. In Berlin hatten sich mehrere Protestdemonstrationen angekündigt, die größte Kundgebung war mit 1000 Teilnehmern angemeldet.

In einem Schreiben an die Botschaft Deutschlands und Großbritanniens forderten rund 1000 israelische Künstler, Schriftsteller und Akademiker die Absage der anstehenden Besuche von Netanjahu. Die israelische Zeitung "Haaretz" berichtete am Dienstag, zur Begründung hätten sie geschrieben, Israel befinde sich in der schwersten Krise seiner Geschichte und "auf dem Weg von einer lebendigen Demokratie zu einer theokratischen Diktatur". Israel-Experte Volker Beck hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aufgefordert, den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zur Rücknahme seiner umstrittenen Justizreform zu drängen. Er hoffe, dass Scholz "kein Blatt vor den Mund" nehme, sagte der frühere Bundestagsabgeordnete der Grünen und heutige Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft am Donnerstag im rbb24 Inforadio.

QuellenBBC; "Vox"; mit DPA.

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel