Was läuft schief? Auch nach dieser Wahl richten sich die Blicke abermals auf die FDP, die es bei allen bemerkenswerten Wendungen in Berlin doch besonders bitter erwischt hat.
Diesmal sind es 4,6 Prozent, die ihr Kreuz bei den Liberalen gemacht haben. Zu wenig: Sie fliegen aus dem Abgeordnetenhaus, wechseln in die außerparlamentarische Opposition. Zum nunmehr fünften Mal, seitdem die FDP in der Ampel-Koalition auf Bundesebene mitregiert, bugsiert es die Partei aus einer Landesregierung (Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein) oder einem -parlament (Saarland und Niedersachsen).
Die liberale Misere, die 2022 ihren Anfang genommen hat, geht 2023 also weiter – und es stehen noch drei Landtagswahlen in diesem Jahr (im Mai in Bremen, im Oktober in Bayern und Hessen) bevor. Was muss sich bis dahin ändern?
Die Ursachensuche hat zwar gerade erst begonnen, doch auch den jüngsten Misserfolg führen einige Liberale auf das eigene "Erscheinungsbild" im Bund zurück. Er sei zwar ein "Verfechter der Ampel", sagte etwa Fraktionsvize Wolfgang Kubicki im Gespräch mit dem "Tagesspiegel". "Wir müssen allerdings zur Kenntnis nehmen, dass ein Großteil unserer Wählerinnen und Wähler mit dem Erscheinungsbild in dieser Konstellation unzufrieden ist." Die Rolle in der Ampel sei "noch nicht optimal". Schon nach der Wahlniederlage in Niedersachen im Oktober hatte Parteichef Christian Lindner eine Profilschärfung angekündigt, um wieder in die Erfolgsspur zu finden.
Genützt hat es bislang offenkundig wenig. Liegt das Problem also wirklich am Profil der FDP – oder eigentlich woanders?
Nachfrage bei Manfred Güllner, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Forsa, dass regelmäßig die Wählerstimmung abfragt. "Die FDP hat kein Profil-Problem", sagt er dem stern. "Das FDP-Profil spielte bei der Wahl in Berlin keine Rolle." Viele Berliner hätten die CDU gewählt, weil sie Rot-Grün-Rot nicht mehr wollten. "Was die FDP in der Ampel-Koalition macht, spielte bei dieser Wahl überhaupt keine Rolle."
In der Tat ist der Erfolg der Christdemokraten auch auf den Frust über die bisherige Arbeit des Rot-Grün-Roten Senats zurückzuführen, wie es Wahltagsbefragungen nahelegen. Jeder zweite CDU-Wähler begründete seine Wahlentscheidung demnach mit der Enttäuschung über andere Parteien. Aus Überzeugung hatten nur 43 Prozent ihr Kreuz bei den Christdemokraten gemacht. Die CDU, bei der Wahlwiederholung in Berlin: auch eine Protestpartei und ein Schmelztiegel für die Unzufriedenen.
Das räumt auch FDP-Chef Lindner ein. "Ganz offensichtlich konnte die FDP nicht von der Wechselstimmung profitieren", sagte er am Wahlabend. Diese sei "nahezu exklusiv in Richtung der Union" gegangen. Dennoch: Auch die Liberalen haben viele Stimmen verloren, insbesondere an die CDU und die Gruppe der Nichtwähler. Das habe auch damit zu tun, erklärte Lindner, "dass natürlich die Oppositionsrolle gegen ein linkes Bündnis von SPD, Grünen und Linkspartei dann erschwert ist, wenn Freie Demokraten im Bund mit SPD und Grünen in Regierungsverantwortung stehen."
Für Meinungsforscher Güllner ist die Lage komplexer – oder simpler, je nach Lesart.
Seit ihrer Anwesenheit in der Ampel-Regierung hat die FDP ihre Umfragewerte praktisch halbiert: von 11,5 Prozent (bei der Bundestagswahl) auf 6 Prozent (im aktuellen RTL/ntv-"Trendbarometer"). Warum? "Die Wähler, die bei der Bundestagswahl 2021 ihr Kreuz bei der FDP gemacht haben, sind zum großen Teil enttäuscht, dass ihre Interessen zu wenig in die Politik eingebracht werden", sagt Güllner. "Das würde ich nicht einen Mangel an 'Profil' nennen, sondern eine mangelnde Interessenvertretung ihrer Wählerklientel."
Das Wählerklientel der Liberalen, laut Güllner: der deutsche Mittelstand. Handwerker, kleine Unternehmer, leitende Angestellte. Dessen Erwartungen: "Entbürokratisierung, Schutz vor der Übermacht des Staats, eine Mobilitätspolitik, die auch die Interessen der Autofahrer berücksichtigt und generell ein Gegengewicht gegen einen überbordenden grünen Zeitgeist". Bei diesen Punkten könne die FDP beweisen, so der Forsa-Chef, dass sie ihre Wähler im Blick habe.
"Die FDP hat ein unklares Profil"
Zwar sieht auch der FDP-Vorsitzende nach der Berlin-Wahl keinen Grund zu einer Kurskorrektur. Man habe bereits "vor einigen Monaten als Bundespartei unseren Kurs justiert" und verfolge in der Regierungsbeteiligung "eine klare Strategie, die sich in Berlin noch nicht ausgezahlt hat, an der wir aber festhalten". Jedoch sieht Linder offensichtlich einen Nachholbedarf bei der konkreten Ausdeutung des liberalen Profils und zog daraus drei zentrale Konsequenzen aus der Wahl für die Ampel-Politik:
- "Eine Politik gegen das Auto ist ganz offensichtlich nicht im Interesse der Menschen", schlussfolgerte Lindner aus dem CDU-Wahlkampfschlager und versprach, dass die FDP sich weiter für Wahlfreiheit in der Mobilität einsetzen werde.
- Ebenso werde die FDP für ein modernes Einwanderungsrecht einstehen, aber nicht für eine ungeregelte Migration.
- Außerdem habe die Ampel nur eine Chance auf Wiederwahl, "wenn wir unser Land auf den wirtschaftlichen Erfolgspfad zurückführen". Das gelinge nicht mit mehr Bürokratie und höheren Steuern, sondern nur mit insgesamt "mehr wirtschaftlicher Freiheit, mehr Unternehmergeist, mehr Einfallsreichtum und geringeren Belastungen."
Aber gelingt so der programmatische Paukenschlag, um die Wähler wieder auf die Seite der FDP zu ziehen? Die Liberalen brauchen jetzt ein "Leuchtturmprojekt", meint jedenfalls der Politikwissenschaftler Thomas Jäger von der Universität Köln.
"Die FDP hat ein unklares Profil", sagt er zum stern. "Die wenigsten Bürger könnten mit zwei Sätzen sagen, wofür die FDP steht." Das liege daran, dass ihre Minister keine Leuchtturmprojekte erarbeitet hätten. "Besonders sichtbar ist hingegen (Außenpolitikerin) Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die aber eher in Opposition zur Regierung auftritt. Auch (Vize-Vorsitzender) Wolfgang Kubicki, der ebenfalls viel Aufmerksamkeit erhält, trägt eher zur Diffusion eines einheitlichen Auftretens bei."
Das Fazit des Experten: "Kein gemeinsames Projekt und viele Einzelkämpfer, so kann man das Auftreten der FDP beschreiben."
Mehr Krawall im Auftritt könnte zwar für mehr Sichtbarkeit im Auftritt sorgen, aber auch für mehr Schärfe im Verhältnis zu den Koalitionspartnern. Franziska Brandmann, Vorsitzende der Jungen Liberalen, hält es nicht für zielführend.
"Dass wir erneut eine Landtagswahl verloren haben, mag den ein oder anderen in der FDP dazu einladen, mehr Krawall zu fordern", sagte sie. "In mir löst das Ergebnis Demut aus." Wenn die Wähler in Berlin, wo so viel schieflaufe, sich die FDP nicht als Problemlöser wünschten, dann laufe etwas schief. "Jeder von uns sollte darüber nachdenken, welche politischen Lösungsvorschläge er in die Partei einbringt und welchen Anteil er an einem gelungenen Gesamtauftritt hat." Brandmann erwarte "Kompetenz statt Krawall, Selbstreflexion statt Beißreflex".
Ähnlich sieht man es im bayerischen Landesverband, der im Oktober eine Wahl zu bestreiten hat. "Auf Bundesebene müssen wir darauf achten, den Fortschrittsgedanken deutlicher zu machen", sagte Lukas Köhler, der bayerische FDP-Generalsekretär und Vize-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Regieren ist keine Last für uns. Im Gegenteil, es geht um das Ringen um die beste Lösung." Das müsse die FDP nun in den Vordergrund rücken. "Dabei darf es nicht um die anderen gehen, sondern darum, was wir erreichen wollen und können."
Nicht das Profil der FDP ist demnach ein Problem, sondern es deutlicher zum Ausdruck zu bringen. "Die FDP muss klarmachen, dass die darum kämpft, die Interessen ihrer Wähler durchzusetzen", sagt Meinungsforscher Gullner. Krawall? Nicht nötig. "Die Wähler sind schlau genug zu wissen, dass man in einer Koalition nicht alles zu 100 Prozent durchsetzen kann. Aber derzeit haben sie das Gefühl, dass da zu wenig kommt."