Anzeige
Anzeige

SPD vor Parteitag Anschwellender Null-Bock-Gesang

Martin Schulz steht vor seinem härtesten Kampf. Er muss seine Partei überzeugen, noch mal in die Große Koalition zu gehen. Doch die Basis rebelliert.

Sonntag. High Noon. Martin Schulz wird oben stehen auf der Bühne des "World Conference Centers" in Bonn. Ein historischer Ort. Früher tagte hier das Parlament. Der SPD-Chef wird argumentieren, werben und um Vertrauen bitten. Er wird alles aufbieten, was von seiner Autorität noch übrig geblieben ist.

Schulz steht sein härtester Kampf bevor. Um das Ja des Parteitags für Koalitionsgespräche mit der Union. Und um sein Amt als Parteivorsitzender. Es ist ein Kampf mit ungewissem Ausgang.

Unten wird Oliver Ruß sitzen, zusammen mit 599 anderen Delegierten, Schulz zuhören, immer wieder den Kopf schütteln und "Nein" denken. Nein. Nein. NEIN.

Nein zu diesem Sondierungspapier.

Nein zu noch einmal Große Koalition.

Nein zu einem Tod der SPD auf Raten.

Ruß fehlt in dem Papier, das seine Parteispitze mit der Union ausgehandelt hat, so ziemlich alles, was ihm wichtig ist: Maßnahmen gegen prekäre Beschäftigung. Die Bürgerversicherung bei den Krankenkassen. Ein höherer Spitzensteuersatz für Besserverdienende.

Was kommt da auf die SPD zu? Parteichef Martin Schulz bei der Präsentation der Sondierungsergebnisse am vergangenen Freitag
Was kommt da auf die SPD zu? Parteichef Martin Schulz bei der Präsentation der Sondierungsergebnisse am vergangenen Freitag
© Sean Gallup/Getty Images

Das Basis rebelliert

Oliver Ruß ist, wie man so schön sagt, ein Sozialdemokrat von echtem Schrot und Korn. Arbeiteradel. 51 Jahre. Typ Kümmerer. Stoppelhaarschnitt.

Jeans. Herz auf der Zunge. Stadtrat in Leverkusen, Betriebsrat beim Entsorger Avea. Einer, der mitkriegt, wie es dort zugeht, wo es stinkt und kracht. Einer, der da unterwegs ist, wo vielen das Geld zum Leben nicht mehr reicht.

Schon der Urgroßvater war Sozialdemokrat, den roten Großvater steckten die Nazis ins KZ, seine Älteste ist - natürlich - bei den Jusos. Die Familie Ruß repräsentiert Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der SPD. Wenn es eine Zukunft gibt.

Im Dezember, als die SPD in Berlin darüber debattierte, ob sie überhaupt mit der Union zu reden beginnen soll, da hat Ruß sich auf die Rednerliste setzen lassen und den Genossen vorgerechnet, wie schnell es mit ihrer Partei vorbei sein kann. Er nannte nur ein paar Zahlen. Bundestagswahl 1998: 40,9 Prozent. Wahl 2017: 20,5 Prozent. Dazwischen: 15 Jahre regiert. "Mathematisch gesehen, liebe Genossinnen und Genossen, erreichen wir das Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag schon bei der Wahl 2029“ , rief Ruß. Er bekam viel Applaus.

In seinem Ortsverein Opladen hat sich die Zahl der Mitglieder seit 2008 halbiert. Die Stimmung gegenüber der SPD ist parterre, seit Freitag voriger Woche noch ein wenig tiefer. "Viele sagen: Ihr macht doch nur die GroKo, damit ihr wieder mit euren Dienstwagen durch Berlin fahren könnt." Oder sie überlegen wie die Genossin Annette, ihr Parteibuch zurückzugeben - mit unfreundlichem Gruß: "Die SPD ist doch nur noch der Bettvorleger der Union."

Die SPD ist die Dramaqueen der deutschen Politik

Weil Ruß nicht allein steht mit seiner Ablehnung, seinen Beobachtungen und Befürchtungen und weil die SPD-Führung sich nicht traut, zu führen und ohne ausdrückliche Einwilligung ihrer Basis über die GroKo zu entscheiden - deshalb erlebt die Republik die SPD gerade wieder mal als Dramaqueen der deutschen Politik. Die Partei, die sich windet und quält, wenn sie regieren soll. Der Kompromiss ist ihr natürlicher Feind. Und sie leidet am Sozi-Syndrom, einer Krankheit, die tief in der deutschen Sozialdemokratie steckt: Sie kann Erfolge nicht feiern, dafür bejammert sie umso ausgiebiger, was sie nicht erreicht hat.

Die letzten Änderungen an den 28 Seiten Sondierungspapier waren kaum in die Computer eingetippt, da ging es auch schon los. Zwar lobte Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis von der IG BCE "elementare Verbesserungen für die Beschäftigten und die soziale Gerechtigkeit". Aber das kam gegen den anschwellenden Null-Bock-Gesang kaum an.

Vor allem Kevin Kühnert macht sich das Sozi-Syndrom geschickt zunutze. Kühnert ist 28, studiert Politologie und führt seit Ende vorigen Jahres die Jusos an. Er ist der Hauptwiderständler gegen die Große Koalition. Der Anti-Schulz. Er will diese Regierung nicht. Um keinen Preis. Ob er denn einer GroKo zustimmen könnte, wenn die Spitzensteuer angehoben werden würde? "Vermutlich nicht", antwortet Kühnert.

Jusos Kevin Kühnert
Juso-Chef Kühnert kämpft mit allen Mitteln gegen die GroKo
© Michael Kappeler/DPA

Diese Tage bieten dem Juso-Chef eine hervorragende Gelegenheit, sich zu profilieren. Am Samstagnachmittag redet Kühnert in Wernigerode auf dem Landesparteitag der sachsen-anhaltinischen SPD. Vor ihm war Sigmar Gabriel da. Der Außenminister hatte vehement für eine Große Koalition geworben. 18 Minuten lang zählt nun Kühnert auf, was gegen ein Bündnis mit Merkel & Co. spricht: Merkel & Co. Das mangelnde Vertrauen in die Union. Die nötige Erneuerung der SPD. Was die SPD-Sondierer akzeptiert haben, etwa in der Flüchtlingspolitik („Das ist eine Obergrenze und sonst gar nichts“). Was sie nicht durchgesetzt haben, etwa die Bürgerversicherung. Was sie nicht ernsthaft verhandelt haben, wie eine Minderheitsregierung. Was sie als Erfolg verkaufen, obwohl es schon im letzten Koalitionsvertrag stand, wie die Solidarrente. "Warum lassen wir uns die Butter vom Brot nehmen?", fragt Kühnert.

Jusos wollen GroKo um jeden Preis verhindern

Ein vernichtenderes Urteil über das Verhandlungsgeschick der SPD-Führung kann man kaum fällen.

Am Ende stimmen die Delegierten über einen Antrag der Jusos ab: Nein zu weiteren Verhandlungen mit der Union. Die Mehrheit beträgt zwar nur eine Stimme. Und die SPD in Sachsen-Anhalt ist auch nicht wirklich bedeutend. Sie stellt sieben Delegierte auf dem Bundesparteitag. Aber das macht in diesem Moment nichts. Es ist ein wichtiger Etappensieg für Kühnert und die GroKo-Gegner. Ein Symbol. Die Schleusen sind geöffnet.

In Nordrhein-Westfalen nörgelt fast der gesamte Landesvorstand, große Teile der SPD-Linken wollen von der GroKo eh nichts wissen, dito die Spitze der Berliner SPD. SPD-Vize Ralf Stegner will nachverhandeln, die Hessen und die Bayern ebenso – über die Eindämmung befristeter Jobs bis zum Familiennachzug von Flüchtlingen. Wer die Große Koalition unbedingt will und braucht, schweigt dazu. Wie Angela Merkel. Die Kanzlerin lässt ihre Kauders nur kühl mitteilen: "Da gibt es nichts mehr zu rütteln."

Wer die Große Koalition nicht so unbedingt will und braucht, höhnt "Zwergenaufstand". Wie Alexander Dobrindt, der die CSU im Bundestag anführt. Leichter macht er es der SPD-Spitze damit jedenfalls nicht, den Delegierten am Sonntag das Sondierungsergebnis schmackhaft zu machen.

Dabei hätten die Genossen durchaus Grund, das Ausgehandelte gutzuheißen. Das Ergebnis mag nicht ganz so "hervorragend" sein, wie Martin Schulz es übermüdet nach dem Verhandlungsmarathon pries. Aber der künftige bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat durchaus recht mit seiner Einschätzung: "Der frühere klassische SPD-Wähler kann mit dem Ergebnis zufrieden sein."

Wer die Söder-übliche Gemeinheit in dem Satz vermisst: Sie versteckt sich in dem Wörtchen "frühere"

Die SPD kann Erfolge vorweisen

Tatsächlich kann die SPD etliche Verhandlungserfolge vorweisen. Die Abgeltungssteuer auf Zinsen, von der Vermögende profitieren, fällt weg; die Europapolitik soll ambitionierter und die Rolle der EU gestärkt werden; Kita-Gebühren sollen weiter sinken, es soll mehr Ganztagsbetreuung in Grundschulen geben, mehr und besser bezahlte Pflegekräfte, mehr Hilfen für Langzeitarbeitslose, Arbeitnehmer und Arbeitgeber zahlen wieder gleich viel in die Krankenkasse, die Rente wird verbessert, künftig darf der Bund Schulen finanzieren, der Soli sinkt für 90 Prozent der Steuerzahler, nur Spitzenverdiener profitieren nicht. Kommt alles wie vereinbart, behält ein Kleinverdiener mit Kind von 2000 Euro im Monat 40 Euro mehr übrig. Das ist nicht die Welt, aber auch nicht verschwindend wenig.

Die Formel, auf die man den bisherigen Verhandlungsstand bringen kann, lautet: Wir versuchen, mit einer Menge Geld verloren gegangenes Vertrauen und unsere Wähler zurückzukaufen.

Einer dritten Regierung Merkel plus Schrumpf-SPD mag es an Ideen mangeln, an Geld mangelt es nicht – und auch nicht an der Bereitschaft, es rauszuhauen. Die Wirtschaft boomt, 2,2 Prozent Wachstum gab es voriges Jahr, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Sozialkassen gesunden, die Steuern sprudeln. 2017 erzielte der Bund einen Haushaltsüberschuss von 5,3 Milliarden Euro, zum vierten Mal in Folge macht er keine neuen Schulden. Der finanzielle Spielraum der neuen Regierung wächst minütlich. Mit 30 Milliarden Euro Verteilungsmasse rechneten die Jamaika-Sondierer; Merkel, Schulz und Seehofer packten gleich noch mal 15 Milliarden drauf.

Das Regieren könnte also relativ gemütlich werden, ökonomisch gesehen jedenfalls. Die SPD müsste nur wollen.

200 der 600 Delegierten gelten als GroKo-Gegner

Der Sonderparteitag am Sonntag, so sehen es fast alle in der engeren SPD-Führung, ist die entscheidende Hürde. Geben die Delegierten ihr Plazet für Koalitionsverhandlungen, sei die Sache weitgehend gelaufen. Etwa 200 der 600 Delegierten gelten als beinharte GroKo-Gegner, die sich nicht mehr umstimmen lassen. Weitere rund 200 werden dem Lager der Mitregierungswilligen zugerechnet. Der Kampf geht um das restliche Drittel, die Unsicheren, Unentschiedenen, Schwankenden.

Sie sollen vor allem mit einem Druckmittel bearbeitet werden: der Macht der 450.000 Mitglieder. Die Delegierten sollten nicht die Basis bevormunden. SPD-Vize Stegner formuliert die Alternative, vor der der Sonderparteitag steht, so: "Mandat zum Weiterverhandeln mit der Union und am Ende entscheiden unsere Mitglieder über das Ergebnis oder Weg zu baldigen Neuwahlen."

Wer so argumentiert, hat ein Ja der Basis bereits eingepreist. Denn Neuwahlen folgten unweigerlich auch, falls die SPD-Mitglieder einen ausgehandelten Koalitionsvertrag niederstimmen würden. Nur wären die Konsequenzen für die unberechenbare Partei dann noch verheerender.

Das weiß auch Kevin Kühnert. Er hat seine Juso-Freunde deshalb schon gewarnt, übertriebene Hoffnungen in den Mitgliederentscheid zu setzen. Das ist die Lehre aus dem letzten Mal. 2013 herrschte der Eindruck vor, die Basis werde eine Große Koalition ablehnen. Die Jusos und alle anderen, die gegen ein schwarz-rotes Bündnis mobilisierten, bestimmten das Bild in den sozialen Medien und der Öffentlichkeit. Am Ende sprachen sich drei Viertel der Genossen für die GroKo aus.

Wiederholung nicht ausgeschlossen - wenngleich kaum so überzeugend.

Hubertus Heil, bis Dezember SPD-Generalsekretär, baut denn auch darauf, dass sich am Ende die Argumente der Führung durchsetzen. Heil schildert momentan gern eine Szene aus dem Film "Das Leben des Brian" der britischen Komikertruppe Monty Python. Ein Revolutionär will die Juden gegen die Römer aufwiegeln und fragt, was die Besatzer je für sie getan hätten. Plötzlich zählen die Bürger ein Verdienst der Römer nach dem anderen auf. Das Aquädukt, sanitäre Einrichtungen, gute Straßen, medizinische Versorgung, Schulen, öffentliche Bäder, Wein und schließlich den Frieden. Am Ende gibt der Revolutionär entnervt auf und sagt: "Ach, halt die Klappe."

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel