Die Sonne scheint, die Fachwerkhäuser prunken, es gibt Licher-Bier, die orangefarbenen CDU-Fahnen flattern im Wind - und oben auf der Bühne im "Hessenpark" nahe Frankfurt erlebt man, passend zur Kulisse, eine politische Traumhochzeit: die zwischen Roland Koch und Angela Merkel.
Es ist der 60. Geburtstag der hessischen CDU, der großen, schwarzen, mächtigen Dregger-Kanther-Koch-CDU. Man könnte gegenüber dem Mädchen aus dem Osten jetzt etwas auftrumpfen. Aber Koch ruft ins Mikrofon: "Wir sind stolz darauf, dass die Bundesvorsitzende der CDU und die künftige Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland hier ist, Angela Merkel!"
Ist das wirklich
noch Roland Koch? Der Mann, der einmal spät nachts im Adenauer-Haus ihre Strategie beim Geschacher um das Bundespräsidentenamt als "chaotisch" und "unprofessionell" geißelte? Der Mann, von dem es heißt, er führe immer gleich fünf Messer gegen sie im Gewand? Dieser Mann sagt: "Liebe Angela Merkel, wir wollen, dass Deutschland mit deiner Führung eine erfolgreiche Zukunft hat."
Die Hymne des Hessen auf Angie ist wohl überlegt. Er kennt seine CDU. Weiß, dass der krawallige Auftritt Gerhard Schröders am Wahlabend die Christdemokraten in die engste Allianz getrieben hat, die je zwischen Angela Merkel und ihrer Partei bestand. Weiß, dass das 98,6-Prozent-Ergebnis der Vorsitzenden bei ihrer Wiederwahl als Fraktionschefin vor allem ein Marschbefehl an die eigene Truppe ist: Von diesem Schröder lassen wir unsere Kandidatin nicht abschießen. Und weiß vor allem: Die Stunde der Niederlage hat das unionsinterne Machtgefüge an einigen Stellen verändert.
Der zunächst lähmende Schock der unerwarteten Schlappe hat zu einem bemerkenswerten Bündnis geführt. Schon am Tag danach bemühte sich die CDU-Chefin ins Büro von Wolfgang Schäuble, was sie seit Jahren zu vermeiden suchte. Ihr war klar, dass sie für das kommende Machtspiel um ihre Kanzlerschaft den Mann braucht, den sie bei ihrem Aufstieg oft genug gedemütigt hatte. Besser als Schäuble kennt niemand die Union. Schachzüge im politischen Geschäft, die er nicht beherrscht, gibt es nicht.
Und Schäuble besitzt etwas, das die angeschlagene CDU-Chefin jetzt mehr braucht als alles andere: Loyalität auch Partnern gegenüber, die seine Talente für die eigene Macht schamlos ausgenutzt haben - wie einst Helmut Kohl. Merkel ist klar, ihr politisches Überleben hängt an einem Bündnis mit dem Mann, der in einer großen Koalition vielleicht sogar als Fraktionsvorsitzender wie zu Kohls Zeiten zur Verfügung stünde.

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Seit diesem Gespräch
stimmt sich Merkel pausenlos mit allen Unionsgrößen ab. Es dürfte Schäuble gewesen sein, der ihr eine zentrale Bedingung gestellt hat. Dass er nur mitzieht, wenn sie ab sofort folgenschwere Alleingänge an allen Gremien vorbei wie die Berufung des Steuer-Gurus Paul Kirchhof unterlässt. Abgesprochen wurde auch, dass Schäuble zunächst für eine schwarz-gelb-grüne Jamaika-Koalition plädiert.
Seit das Thema jedoch - zumindest vorerst - erledigt ist, gilt für alle Schäubles Satz: "Eine Partei, die für ihre Kandidatin antritt und sich dann vom Gegner sagen lässt "Nicht mit der", kriegt ein Problem." CDU-General Volker Kauder, Bindeglied zwischen Merkel und Schäuble, gibt die Parole aus: "Wir stehen knochentrocken hart!"
Das ist auf Dauer keine Überlebensgarantie für Merkel, aber sie hat jetzt etwas Luft, wenigstens bis zum Zusammentritt des neuen Bundestags am 18. Oktober. "Sie muss eine Koalition hinkriegen, sonst ist sie weg, und das weiß sie auch", beschreibt ein ostdeutscher CDU-Ministerpräsident ihre Lage.
Wenn Merkel doch noch kaputt gespielt würde in diesem unerbittlichen Machtpoker, wenn sie das Kanzleramt doch nicht mehr erreicht, weil die Schröder-SPD hart bleibt oder weil die Union irgendwann irre wird am "Angie"-Abenteuer, das sie auf traurige 35,2 Prozent gedrückt hat - dann stehen zwei bereit, die ihren glühenden Ehrgeiz schon in den vergangenen Jahren nur schwer verbergen konnten: Roland Koch und Christian Wulff, die Kanzler der Reserve.
Koch und Wulff - das ist im Personal der Union so was wie der größte anzunehmende Gegensatz. Hier der Raubauz aus Hessen, dicklippig und durchsetzungsstark, "brutalstmöglicher Aufklärer" der eigenen schwarzen Parteikassen, Urheber der unappetitlichen Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Dort der smarte Herr Wulff aus Niedersachsen, immer ein bisschen blass, immer ein bisschen nett, immer aber auch: ein bisschen mehrheitsfähig. Schon auf dem Gymnasium kam es vor, dass Mitschüler zu Wulff sagten: "Mensch, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ein so sympathischer Mensch in der CDU ist."
Den netten Herrn Wulff
würde man jederzeit zum Kaffeetrinken mit nach Hause bringen - selbst wenn man in einer rot-grünen WG lebte. Koch dagegen sollte man lieber vor der Tür lassen. Außer es geht zum Bischof nach Fulda oder zu den Heimatvertriebenen. "Wulff gilt bei uns als Milchschnitte, Koch dagegen als "tough cookie"", fasst einer aus der CDU-Führungsriege die Binnensicht auf beide zusammen.
"Tough cookie" - der harte Keks: Koch hat sich die Macht in Hessen genommen, in einem brutalen Akt, nicht ohne ausländerfeindliche Ressentiments zumindest in Kauf zu nehmen. Das riecht etwas streng, imponiert aber den CDU-Kerlen gewaltig. Wulff dagegen hat sich an die Macht geschlichen. Er hat in Niedersachsen zweimal verloren, er hat die SPD ausgesessen, bis sie nur noch den Dampfplauderer Sigmar Gabriel aufzubieten hatte.
Wenn die CDU von neuen Mehrheiten träumt, wenn sie mal so richtig lieb gehabt werden will, von jungen Frauen, von grün angehauchten Großstadtmenschen - dann träumt sie von Wulff. Wenn sie aber ganz bei sich sein will, dann denkt sie an Roland Koch. An den Mann, der schon als Polit-Bubi der Jungen Union das Vertrauen von Übervater Helmut Kohl genoss. An den Mann, der echt CDU ist: schwarz, katholisch, unverfälscht.
Koch analysiert
im Fernsehen kühl: "Wir leben in einer nicht mehr überbietbaren Gefährdung unseres Wohlstandes." Wulff verteilt in Hannover kleine Sahnetörtchen an Demonstranten, wenn sie gegen seine Sparpolitik auf die Straße ziehen. Das ist der Unterschied. Zwischen beiden glüht eine stille Rivalität, nie erklärt, nie zugegeben, nie offen ausgetragen, untergründig aber immer spürbar - und das jeweilige Image spielt dabei eine große Rolle. Es kann kein Zufall sein, dass beide häufig versuchen, kleine Retuschen anzubringen, Pinselstriche nur, die aber zeigen sollen: Ich kann auch ganz anders.
Ausgiebig und gern steht Roland Koch Rede und Antwort, wenn es um seine Freundschaft zum Dalai Lama geht. Das enge Verhältnis zum sanften Tibeter lässt den Hessen etwas softer erscheinen. Smartie Wulff schwingt gern mal die populistische Keule gegen Rechtschreibreform und Kultusministerkonferenz. Beides wirkt ein bisschen bemüht - als ob sie Gefangene jener Bilder sind, die sie jahrelang von sich produzierten.
Aus der Nähe verschwimmen
die Bilder allerdings. Nach außen wirkt der Mann aus Hessen wie in schwarzen Beton gegossen. Unter vier Augen ist Koch ein angenehmer, diskussionsfreudiger Gesprächspartner. Man müsse aufpassen, dass man mit ihm nicht zu lange zusammen sei, sonst fange man noch an, ihn zu mögen, sagte vor Jahren ein besorgter Sozialdemokrat. Wulff dagegen, der Mann, der im Fernsehen so angenehm wirkt, so dialogbereit und verständnisvoll, gibt aus der Nahdistanz ein ganz anderes Bild ab. "Der stänkert am meisten rum, der macht das so jungenhaft, aber hinter den Kulissen schmeißt der noch am ehesten die Granaten", berichtet ein Merkel-Vertrauter aus dem Innenleben der CDU. Und ein anderer Unions-Mann erzählt: Wulffs Machtwillen sei genauso so stark wie das Bemühen, sich nichts anmerken zu lassen. Er komme stets auf Samtpfoten daher - mit geducktem Gang springe er aus leiser Position "wie eine Raubkatze".
Keiner weiß, was die Samtpfote als Nächstes vorhat. Er sagt: "Es wird keinen Kanzler namens Christian Wulff geben. Ich stehe nicht zur Verfügung." Aber vielleicht muss er das auch sagen, weil man ihm nicht so richtig über den Weg traut. Früher galt Wulff als bedingungslos Merkel-loyal, aber immer häufiger setzt er Signale der Eigenständigkeit. Am Abend der Bundestagswahl war er der Einzige aus der Riege der CDU-Landesvorsitzenden, der vorsichtige Kritik an Merkels Wahlkampfstrategie wagte. Bei den Präsidiumssitzungen am großen Tisch im fünften Stock des Adenauer-Hauses saß Wulff früher immer in der Mitte, nahe bei Merkel. Jetzt bevorzugt er Plätze etwas weiter außen.
Koch dagegen, der früher gern durchblicken ließ, dass er Merkels Fähigkeiten für begrenzt hält, übt sich in fast schon beängstigender Loyalität. Der Hesse wird in der CDU eindeutig als Kanzlerersatz favorisiert für den Fall, dass Merkel in Verhandlungen mit der SPD doch nicht durchzusetzen ist. Sitzt er im Kanzleramt, könne er die Macht dauerhaft sichern. Er gilt als entscheidungsstark, kompetent, wenig angstanfällig und hat einen Ruf als glänzender Debattenredner. Der ideale Kanzler also: noch unpopulär, aber einer, der die Deutschen durch Leistung überzeugen könnte.
Milchschnitte Wulff taucht in den Überlegungen der Unionsstrategen eher als Idealbesetzung für den Fall auf, dass es Neuwahlen gibt - auch weil er bei aktuellen Umfragen fast viermal so viel Zustimmung erhält wie der Hesse.
Was Koch und Wulff jenseits dieser Konkurrenz aber vereint, sind ihre Blicke aus merkwürdig unreifen Mienen. Die Gesichter der Reservekanzler sind nicht alt, aber auch nicht richtig jung - irgendwie fehlt ihnen die Kontur. Und beide schleppen etwas seltsam Abgestandenes, Verhocktes, geradezu Bürohaftes mit sich herum: Man meint die Jahre förmlich zu spüren, die sie unter Kunstlicht in irgendwelchen Sitzungszimmern verbracht haben. In ihrem Leben scheint alles zu fehlen, was einem Leben Schwere, Tiefe, Narben verleiht.
Sie teilen miteinander
typische Lebensläufe der Nach-68er-Ära - gleichförmig und ohne existenzielle Grenzerfahrungen: ohne Krieg, Diktatur und Krawall, ohne Generationenkonflikt oder Aussteigertum. Angela Merkel hat immerhin noch ihr erstes Leben im DDR-Schnüffelstaat. Koch und Wulff dagegen haben nichts - nur die weite Ebene ihrer standardisierten Biografien, die sie über Schüler-Union und Jurastudium direkt in die Politik geführt haben. "Ich gebe zu, dass es Brüche nie gegeben hat in meinem Leben", bekennt Koch. "Sie haben mir allerdings auch nie sonderlich gefehlt. Ich kann damit nicht dienen. Ich war glücklich die letzten 30 Jahre."
Das Leben, jedenfalls so weit es Sensationen Dramatik, Protest oder Chaos bedeutet, fand immer irgendwo anders statt. Vielleicht teilen Koch und Wulff daher auch ein fast schon erotisches Verhältnis zur Arbeit, insbesondere zum Aktenstudium - sofern man dabei von Erotik sprechen kann. In ihren Mappen suchen Koch und Wulff das, was "draußen im Lande" stattfindet, also das Leben - oder das, was sie dafür halten. Daher hat ihre Intelligenz immer auch eine etwas kalte, synthetische Note: Sie ist durch biografische Erfahrungen nicht gesättigt. Man spürt das nichtgelebte Leben. Politik war in diesen Leben offenbar das einzig erreichbare Abenteuer, Politik brachte etwas Krawall in die Reihenhäuser.
Koch, der etwas ungelenke Junge aus Eschborn, knallte auf dem Gymnasium mit Lehrern zusammen, die 68 studiert hatten und nun an der Schule mehr Sozialismus wagen wollten. Für Roland ein brutalstmöglicher Clash of Cultures: Er fand sogar noch als halberwachsener Junge-Union-Funktionär nichts dabei, Hosenträger anzuziehen.
Wenn ihn je etwas verletzt hat, dann die Herablassung der Pädagogen, die sich auf der richtigen Seite der Weltgeschichte wähnten: "Das waren noch geschulte Marxisten", erinnert sich Koch. "Die sagten uns: "Wir gewinnen eh. Die Frage ist nur wann." Die Angriffe, denen er als Ministerpräsident in der Schwarzgeld-Affäre ausgesetzt war, sieht er durchaus als einen späten Versuch der 68er, ihn doch noch zu Fall zu bringen.
Wulff erlebte die Schulzeit in Osnabrück ähnlich. Aber es ist bezeichnend, dass er schon damals auf ganz andere Strategien als Koch setzte. Koch hatte auch Spaß am verbalen Gemetzel - Wulff dagegen handelte die Kompromisse direkt mit dem Schuldirektor aus, möglichst solche, die mehrheitsfähig waren. Er war auch bei den Linken ein beliebter Schülersprecher.
Trotz der verletzenden
Schulhoferfahrungen fehlt beiden die unversöhnliche, ideologisch übersäuerte Bitterkeit der Dreggers, Kanthers, Kohls. Wulff und Koch sehen den Kampf gegen Links eher sportlich, weniger weltanschaulich: Sie sind keine Moralpolitiker - eher Ökonomen der Macht. Koch kann tiefschwarze Reden halten, in denen er "gelebte Liebe zum Vaterland" anmahnt - aber seine Integrationspolitik für Ausländer gilt als eine der modernsten in Deutschland. Und in der Sprache von Wulff perlen Begriffe wie "best practice" munter neben Bekenntnissen zu "Familie, Aufrichtigkeit, Eigentum".
Diese postmoderne Beweglichkeit zwischen konservativen Bekenntnissen und Modernisierungseifer könnte für die Union auf der Suche nach neuen politischen Partnern noch wichtig werden. Denn dass CDU und CSU sich nach dem Wahldesaster für Schwarz-Gelb auch jenseits einer großen Koalition neue strategische Partnerschaften erschließen müssen, bestreitet keiner der Führungsleute.
Auch für den Fall, dass die SPD in ihrem Widerstand gegen Merkel unerschütterlich bleibt, wird in der Union vorausgedacht: "Sie muss Kanzlerin werden. Wenn nicht, hat sie die längste Zeit an der Spitze hinter sich", sagt einer aus der Fraktionsführung.
Sollte es tatsächlich dazu kommen, dürfte man sich an einen Satz aus dem Standardrepertoire von Roland Koch erinnern: "Jeder, der ein solches Amt ausübt wie ich, muss sich notwendigerweise auch die Kanzlerschaft zutrauen."
Tilman Gerwien, Hans Peter Schütz/Mitarbeit: Franziska Reich