Michael Streck steht es bis oben hin: Es sind Idioten wie der britische Teflon-Politiker Keith Vaz, die bei ihm Brechreiz auslösen, und auch Journalisten-"Kollegen", die alles und jeden skrupellos ans Messer liefern.
Da draußen leben ein paar Menschen, die bei mir spontanes Unwohlsein oder sogar leichten Brechreiz auslösen. Donald Trump ist so einer, aber das ist ja keine Kunst, und das habe ich vermutlich nicht exklusiv. Berlusconi war auch so einer, nicht mal wegen Bunga-Bunga und Korruption, sondern wegen seines Gesichts. Ein paar Fußballspieler gehören dazu, Stefan Effenberg und seine Frau oder Ex-Frau gleich mit. Der Fernsehpastor Jürgen Fliege, Schauspieler und Schauspielerinnen, Jim Carrey und Veronica Ferres. Solche Menschen.
Nicht mal Boris Johnson war auf meiner Shitliste
Auf meiner sehr persönlichen Shitliste übelkeitserregender Personen standen bis zum Sommer verhältnismäßig wenig Briten. Nicht mal Boris Johnson stand darauf. Dafür allerdings der ehemalige UKIP-Boss Nigel Farage und der frühere Justizminister Michael Gove, beide führende "Leave"-Männer und beide veritable, sorry, Arschlöcher. Außerdem und seit einigen Jahren schon ein Labour-Mann namens Keith Vaz, den in Deutschland zu Recht kaum jemand kennt. Vaz, ein Labour-Politiker, wurde 1987 als erster asiatischstämmiger Abgeordneter seit 1923 ins Parlament gewählt. Das war eine Leistung. Viel mehr Nettes fällt mir zu ihm nicht ein.
Keith Vaz schaffte es vor drei Jahren auf meine Shitlist, als er als Vorsitzender des "House Select Committees", eines parlamentarischen Sonderausschusses den damaligen Chefredakteur des "Guardian", Alan Rusbridger, sehr inquisitorisch einvernahm. Rusbridger und seine Leute hatten mit der Veröffentlichung der WikiLeaks- und Snowden-Papiere nur ihren Job gemacht. Dennoch wurde der Journalist vorgeladen und musste sich dafür rechtfertigen. Das war schon schlimm genug. Vaz machte es unerträglich. Bräsig und selbstverliebt saß er am Kopfende, und die Veranstaltung gipfelte in der wahnsinnig dämlichen Frage "Do you love your country?", "Lieben Sie ihr Land?". In dem Moment wusste ich, dass Keith Vaz und ich in diesem Leben keine Freunde mehr werden würden.
Grotesker Drang, auf jedes Foto zu müssen
Vaz, so viel noch, war immer schon ein notorischer Selbstdarsteller. Er hat diesen grotesken und kindischen Hang und Drang, sich auf jedes Foto zu quetschen und zu allem irgendwas sagen zu müssen. Er kommt aus Leicester, und ein Leser der lokalen Zeitung "Mercury" schrieb einmal an die Redaktion, dass er in einer aktuellen Ausgabe ein Foto von Keith Vaz vermisst habe und sich nun frage, ob damit diese Zeitung einen hohen Wert für Sammler seltener Objekte besitze. So einer ist Keith Vaz. Vaz war schon ein Wendehals, ehe es Wendehälse überhaupt gab. Ein Teflon-Politiker und nie weit von Skandalen. Allein im Jahr 2000 liefen 18 (!) parlamentarische Untersuchungen gegen ihn. Er kam davon. Er kam immer davon. Es hieß, er würde bei Labour nur überleben, weil ihn die Partei als Blitzableiter für noch größere Skandale brauche. Man könnte sagen, dass Vaz’ größte politische Eigenschaft darin bestand, ein nützlicher Idiot für andere zu sein.
Selbst damit ist es nun vorbei
Ich hätte mir allerdings nie träumen lassen, dass ich ihn je verteidigen würde. Ausgerechnet Keith Vaz. Es fühlt sich so an, als müsste ich plötzlich zu Bayern München halten. Am Wochenende berichtete der "Sunday Mirror", dass Vaz zwei männliche Prostituierte angeheuert und Sex mit ihnen hatte. Vaz stellte sich den beiden als Waschmaschinenverkäufer Jim vor. Er glaubte offenkundig, dass die aus Osteuropa stammenden Männer noch nie von ihm gehört hatten. Das war sehr dumm und sehr ignorant. Natürlich hatten sie von ihm gehört, denn er ist ja ständig in der Zeitung und im Fernsehen, er kann nicht anders. Die Herren erkannten ihn, wandten sich an den "Mirror", und die Leute von der Zeitung erklärten ihnen, wie man mit versteckter Kamera Filme macht, händigten ihnen aber nicht das Equipment dafür aus. Sie wuschen sich gewissermaßen den Pelz, ohne sich nass zu machen.
"Ewiger Überleber" wohl nun doch erledigt
Die beiden Männer trafen Vaz jedenfalls zum zweiten Schäferstündchen, sie filmten ein bisschen. Und schon landete er wieder in der Zeitung, diesmal aber anders als üblich. Großer Skandal. Vaz ist verheiratet und Familienvater, und man kann sich vorstellen, dass seine Gattin bei der Sonntagslektüre nicht eben erbaut war von altersgeilen Textnachrichten über Sex ohne Kondom und Potenzmittelchen, die ihr Keith den Escorts schickte. Vermutlich wusste sie nicht mal, dass ihr Keith auch auf Kerle steht.
Die politische Karriere dürfte für den "ewigen Überleber" ("Times") vorüber sein. Am Dienstag trat er zurück als Vorsitzender des Sonderausschusses und entschuldigte sich aufrichtig. Und zum ersten Mal, wirklich zum ersten Mal, verspürte ich so etwas wie Mitleid mit ihm. Vielleicht war es auch kein richtiges Mitleid. Sondern vielmehr ein Gefühl der Abscheu gegen eine Art von Journalismus, die noch stärker ist als jede Abscheu, die Mister Vaz bei mir je auszulösen vermochte.
Jeder nach seiner Fasson. Im Leben, im Bett
Womöglich bin ich inzwischen wirklich zu kontinental für die Insel. Mir war es schon immer völlig egal, wer es wie mit wem treibt, wie lange oder wie oft. Frauen mit Frauen. Männern mit Männern. Völlig egal. Mir ist auch völlig egal, ob Leute in den Puff gehen oder Escorts bestellen, Frauen oder Männer. Alles egal. Es ist Privatsache. Jeder nach seiner Fasson. Im Leben. Und im Bett.
In Großbritannien ist das anders. Sex-Aufnahmen mit versteckter Kamera gelten hier immer noch als investigativ. Der linke "Mirror" ist darin keinen Deut besser als die rechten "Daily Mail", "Sun" oder "Express". Der Boulevard labt sich an solchen Enthüllungen. Für mich sind sie der Gipfel der Verklemmtheit, der Prüderie und Bigotterie. Selbst die seriösen Zeitungen wie "Guardian" und "Times" sprangen den "Mirror"-Kollegen im Fall Vaz bei. Der hatte sich für die Legalisierung von Prostitution stark gemacht und auch das vor allem unter Schwulen populäre Potenzmittel Poppers für unbedenklich erklärt. Nun heißt es: purer Eigennutz habe ihn getrieben, er habe seine Funktion missbraucht. Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht. Es ist jedenfalls nicht ganz auszuschließen, dass er nicht nur auf meiner Shitlist stand.
Selbstmord wegen Swingerclub-Berichte
Vor etwa einem Jahr traf ich den ehemaligen Formel-1-Manager Max Mosley. Der Mann brachte es 2008 zu weltweiter Berühmtheit, als er bei einer Sado Maso-Party gefilmt wurde. Die sogenannte Zeitung "News of the World" veröffentlichte die Bilder und Videos und ahnte nicht, dass dies der Anfang vom Ende des Blattes sein würde. Mosley klagte nämlich - und gewann krachend. "Ich hatte das Gefühl, dass endlich jemand gegen sie vorgehen musste. Denn die Verstöße gegen die Privatsphäre waren bei 'News of the World' ja die Regel und nicht die Ausnahme. Sie verletzten vor allem Leute, die nicht die Mittel hatten, sich gegen Diffamierungen zu wehren." Mosley erzählte dann von einem Laienpriester aus Wales, der seiner Frau sagte, er würde an Wochenenden Rallyes fahren. In Wahrheit ging er in einen Swinger-Klub. Davon bekamen Reporter Wind und machten eine große Geschichte daraus. Der Priester beging Selbstmord.
Er erzählte noch von einem englischen Koch, der in Nordfrankreich lebte, getrennt von Frau und Kindern. Auch er Swinger. Zwei Reporter erschienen, zeigten ihm kompromittierende Bilder, der Mann flehte: "Bitte veröffentlicht die Fotos nicht, sonst sehe ich meine Kinder nie wieder." Sie taten es dennoch. Und auch er brachte sich um.
Alle schworen Besserung, nichts passierte
Max Mosley sprach sehr liebevoll von seiner Frau und seinen Kindern, die das alles sehr tapfer nahmen. "Aber", fragte er gegen Ende, "können Sie sich vorstellen, was die eigenen Söhne denken müssen, wenn sie ihren Vater so sehen? Klar, am Ende ist es nur Sex. Aber Sex sollte privat sein, das ist die Idee. Selbst Tiere treiben es privat." Ich mochte Max Mosley.
Der Mosley-Prozess veränderte die britische Presselandschaft. Die "News of the World" musste später dichtmachen, als bekannt wurde, dass das Blatt in großem Stil Mobiltelefone abgehört hatte. Es gab Untersuchungen und neue Regularien, und alle schworen Besserung, vor allem der Boulevard.
Danach die übliche Amnesie, alles vergessen.
Es passiert immer wieder. Immer und immer wieder. Und jetzt ist es Keith Vaz passiert. Nicht, dass ich ihn nun deshalb mag, das gewiss nicht. Er wird es überleben, er hat bislang alles überlebt, und ich werde ihn gewiss nicht vermissen. Nur das Wie stört mich. Es stört mich gewaltig. Meine persönliche Shitliste wird lang und länger. Übelkeit bis Brechreiz. Ich könnte kotzen. Über die Prüden und Verklemmten. Und über die Kollegen, die sogenannten Kollegen.