Die Machenschaften von VW do Brasil während der brasilianischen Militärdiktatur (1974 bis 1986) sind offenbar längst nicht aufgearbeitet. Mit millionenschweren Entschädigungszahlungen an ehemalige verfolgte Mitarbeiter und einer eigenen historischen Studie zur Kooperation der Konzerntochter mit der früheren Junta hat Volkswagen nach eigenem Bekunden Verantwortung dafür übernommen, dass VW do Brasil während der Diktatur aktiv Regimegegner der Folterhaft ausgeliefert habe – offenkundig zudem mit Wissen der Wolfsburger Konzernzentrale. Zu einem Schuldeingeständnis und einer Entschuldigung konnte sich Volkswagen Berichten zufolge aber bis heute nicht durchringen. Und nun gibt es neue Ermittlungen gegen VW. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro: "schwerwiegenden und systematische" Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung von Sklavenarbeit und Menschenhandel.
Über die neuerlichen Vorwürfe berichten NDR, SWR und "Süddeutsche Zeitung". Die Recherche-Kooperation hatte 2017 bereits die Kollaboration mit der Militärjunta enthüllt. Die jüngsten Vorwürfe haben den neuerlichen Recherchen zufolge ihre Ursache in derselben Zeit, die eines der dunkelsten Kapitel der Konzerngeschichte markiert. Anfang der 1970er-Jahre witterte Volkswagen dem Bericht zufolge die Chance, ins Fleischgeschäft einzusteigen und zog eine Rinderfarm im Amazonasgebiet auf. Das Angebot, die Fläche zu kaufen, zu roden und zu erschließen, sei von der Militärjunta gekommen, heißt es. VW do Brasil habe auf eine Erfolgsgeschichte und zudem auf Steuererleichterungen gehofft.
VW do Brasil: "Eine Form moderner Sklaverei"
Was sich auf dem 140.000 Hektar großen Gelände der Farm ereignete, davon zeugen laut den Recherchen rund 2000 Seiten starke Akten der Staatsanwaltschaft von Rio. "Das war eine Form moderner Sklaverei", resümiert Staatsanwalt Rafael Garcia seine dreijährigen Ermittlungen. "Die Arbeiter mussten sieben Tage die Woche arbeiten, mehr als zehn Stunden am Tag, ohne jede Bezahlung", so Garcia gegenüber dem ARD-"Weltspiegel". Sie hätten in regelrechter "Schuldknechtschaft" gelebt, mussten den gesamten Lohn gleich wieder für überteuerte Lebensmittel ausgeben. "Diejenigen, die zu fliehen versuchten, wurden geschlagen, an Bäume gefesselt und tagelang dort gelassen", so Garcia weiter. Die Männer, die seinerzeit in entlegenen Dörfern als Leiharbeiter für Rodungsarbeiten von Vermittlern angeworben worden seien, hatten auf einen guten Job gehofft, stattdessen seien sie auf der Farm eingesperrt worden. Nun wurden sie als Zeugen befragt.
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Die Männer bestätigen die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft. Sie berichten demnach von systematischen, schweren Menschenrechtsverletzungen: Bei Fluchtversuchen seien Arbeiter angeschossen und später gefesselt worden. Selbst wer schwer erkrankt war, soll mit vorgehaltener Waffe zur Arbeit gezwungen worden sein, manche hätten die Waffe der Aufpasser in den Mund nehmen müssen, heißt es. Und mehr noch: Die Frau eines Arbeiters soll wegen eines Fluchtversuchs zur Strafe vergewaltigt worden sein. Bei Gewaltausbrüchen sollen Arbeiter auch getötet worden sein, andere gelten als verschwunden. Männer, die an Malaria erkrankten und daran starben, sollen auf dem Farmgelände begraben worden sein, ohne dass die Familien davon etwas erfuhren. "VW hat diese Form der Versklavung offensichtlich nicht nur akzeptiert, sondern auch befördert", zitiert das Recherche-Kollektiv Staatsanwalt Garcia. "Es war schlichtweg billige Arbeitskraft."
Volkswagen: Vorladung zu Anhörung in Brasilia
Volkswagen hat sich zu den neuerlichen Vorwürfen, über die das Unternehmen am 19. Mai offiziell unterrichtet worden ist, bisher nicht geäußert – mit Hinweis auf das in Brasilien laufende Verfahren. Man nehme die Vorwürfe aber sehr ernst, heißt es auf Anfrage der Nachrichtenagentur AFP. Am 14. Juni ist Volkswagen zu einer Anhörung in Brasilia vorgeladen.
Das trifft nicht auf den früheren Leiter der Companhia Vale do Rio Cristalino zu, der Betreibergesellschaft der VW-Farm am Rande des Amazonasbeckens. Laut NDR, SWR und "Süddeutscher Zeitung" sollen in dem Verfahren nach jetzigem Stand keine Einzelpersonen zur Verantwortung gezogen werden. Der Leiter der Farm, ein inzwischen hoch betagter Schweizer, zeigte bei einer Befragung während der Recherchen offenbar wenig Einsicht oder Reue. "Irgendwo hört die Verantwortung als Unternehmer auf", wird er zitiert, wie er die Schuld für die Misshandlungen der Leiharbeiter von sich schiebt. Es habe sich bestenfalls um Einzelfälle "im Rahmen" des damals Üblichen gehandelt.
Farm-Manager: "Dass es da nicht immer ganz zart zugeht ..."
"Man muss die Sache im Rahmen sehen", so der Chef der früheren VW-Farm. "Wenn 1000 Leute, Männer, denn die Frauen ziehen sich da raus, auf einem Haufen sind, dass es da nicht immer ganz zart zugeht, das liegt ja auf der Hand." Den Berichten zufolge erinnert der Schweizer sich gern an die Zeit auf der Farm zurück, an "das Leben eines Cowboys", wie er im "Weltspiegel" sagt. Die Vorwürfe hält er für "Blödsinn"; es bringe auch nichts mehr, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, selbst wenn es falsch gewesen wäre, was damals geschehen sei.
Volkswagen betont laut den Berichten, dass der frühere Farm-Leiter nicht für den Konzern spreche. Seine Aussagen stünden nicht in Übereinstimmung mit den Werten des Unternehmens. Für die Leiharbeiter von damals geht es Jahrzehnte später nun um eine Wiedergutmachung für das erlittene Leid. Im Fall der Opfer der Kollaboration mit der Militärjunta stellte VW 2020 im Rahmen eines Vergleichs eine Entschädigungssumme in Höhe von umgerechnet 5,5 Millionen Euro bereit. Weniger als die Hälfte ging an einen Opferverband ehemaliger Mitarbeiter und deren Hinterbliebener. Der größere Rest der Summe wurde an Menschenrechtsorganisationen gespendet. Die Verantwortung für die Taten liegt nach Auffassung von Volkswagen bei einzelnen Mitarbeitern.
Quellen: Norddeutscher Rundfunk, Tagesschau, ARD-"Weltspiegel", Nachrichtenagentur AFP, Volkswagen