Alle westlichen Experten sind sich einig: Die militärische Entwicklung läuft nicht gut für Russland, die Operationen kommen nicht so voran wie geplant. Dafür spricht einiges, doch es gibt ein großes ABER: Niemand weiß wirklich, was Wladimir Putin plant und vorhat. Prognosen wie "In drei Tagen bricht die Ukraine zusammen!" stammen von den gleichen westlichen Experten und nicht von Putin.
Doch abgesehen von dieser Grundunsicherheit bleibt: Die Invasionstruppen erleiden schwere Verluste. Militär-Accounts, die schon in Syrien, dem Irak und Afghanistan Listen verifizierter Verluste an Fahrzeugen, Panzern und Geschützen geführt haben, müssen jetzt aufgeben: Es kommen zu viele Bilder von Zerstörungen hinein, als dass man sie verifizieren könnte. Dazu gibt es Meldungen über gewaltige logistische Probleme. Trotz des begrenzten Vormarsches gehen den Russen Treibstoff und auch Verpflegung aus. Und das geschieht, obwohl die Operation monatelang vorbereitet war.

Dilettantische Vorstöße
Im Norden ist es nach den Geländegewinnen in den ersten eineinhalb Tagen zu keinen raumgreifenden Operationen gekommen. Die Invasoren stellen sich neu auf und suchen Lücken in der Verteidigung. Und das in einer Situation, in der Kiew zumindest dann und wann noch Flugzeuge und Drohnen in die Luft bekommt. Ganze Konvois werden so zusammengeschossen.
Das russische Vorgehen um Kiew und Charkow erscheint dilettantisch. Kleine Kampfgruppen fahren in die Städte hinein. Ohne Absicherung aus der Luft und ohne begleitende, abgesessene Infanterie. So werden sie zur Zielscheibe der ukrainischen Verteidiger. Erklärlich ist das nicht, das russische Militär scheint alles vergessen zu haben, was es in Syrien gelernt hat. Je länger die Invasoren an einem Platz verharren, umso mehr Zeit geben sie Kiew, die Verteidigung auf die Situation einzustellen.
Absolute Luftherrschaft
Auf jeden Fall rächt es sich, dass Putin die Bodentruppen ohne große vorbereitende Luftoffensive bewegt hat. Erst am Montagmorgen gab das russische Ministerium an, die 100-prozentige Luftherrschaft erreicht zu haben. Ob das stimmt? Bislang sah man noch jede Nacht, wie die Luftverteidigungsbatterien der Ukraine versuchen, russische Jets abzuschießen. Und auch Montag fliegen russische Bomber im extremen Tiefflug, um der Luftabwehr zu entgehen. Hätte Moskau sich an dem Vorgehen der USA in anderen Konflikten orientiert und zunächst Luftwaffe, Luftabwehr und Kommunikationseinrichtungen zerstört, wären die Verluste fraglos kleiner gewesen.
Putin droht ein Krieg der Kommandos
Wie wird es weiter gehen? Früher oder später wird Russland die absolute Luftherrschaft erreicht haben und die Truppen wieder in Bewegung setzen. Dabei muss eines zu denken geben: Bislang gibt es nur überschaubare Schäden in zivilen Einrichtungen. Häufig eher durch fehlgeleitete Raketen verursacht – auch seitens der Ukraine – als durch absichtlichen oder gar systematischen Beschuss. Präsident Selenski kann sich nach wie vor aus dem Regierungsviertel in Kiew melden. Das spricht für seinen Mut, zeigt aber auch, dass das politische Zentrum der Macht bislang nicht aus der Luft zerstört wurde.
Daher ist eine weitere Eskalation zu befürchten: Sollte Putin nicht wie geplant vorangekommen, wird er sich nicht zurückziehen. Er wird zu einem massiven Einsatz von Feuerkraft greifen. Dann werden Kommunikationszentralen, E-Werke, Bahnhöfe, Autobahnkreuze und die Regierungsgebäude und Bunker angegriffen und zerstört werden. Dafür muss das russische Militär nicht auf taktische Atomwaffen zurückgreifen. In Aleppo, aber auch Mossul konnte man sehen, wie ganze Stadtviertel mit konventionellen Waffen in Schutt verwandelt wurden. Synonym für diese Vernichtungskraft sind die thermobarischen Waffen Russlands, Bomben vom Typ wie der "Vater aller Bomben" oder die gefürchteten TOS-Raketenwerfer.
Selbst bei einem exzessiven Einsatz von militärischer Gewalt: Wird Putin dann gewinnen? Vermutlich wird er die gleiche Lektion erteilt bekommen, wie die USA im Irak und in Afghanistan: Man kann ein Land formal erobern, und dann doch ganz langsam wieder verlieren.
Mit jedem Tag wird es für Kiew riskanter, normale militärische Manöver auszuführen, also Truppen und Panzer in größeren Formationen zu massieren oder gar als Konvoi über die Straßen zu schicken. Anders sieht es aber aus, wenn Kiew kleine, trainierte und entschlossene Gruppen für den Kampf nutzt. Acht Kämpfer mit Panzerabwehrwaffen und einer kleinen Überwachungsdrohne passen in einen Handwerker-Transporter. In dem unübersichtlichen bebauten Gelände der Ukraine können diese Trupps überall zuschlagen. Die ersten Kampftage haben gezeigt, die Soldaten sind motiviert und die Bevölkerung steht auf ihrer Seite. Die allgegenwärtigen Kartons von Molotowcocktails werden militärisch bedeutungslos sein, aber sie zeigen die kämpferische Moral der Zivilisten.
Partisanenkrieg, eine Katastrophe für Putin und die Ukraine
Und selbst, wenn die Ukraine unterworfen und besetzt wird, könnte sie sich schnell in ein Afghanistan verwandeln. In ein Land, in der die Besatzer nur in großen festungsartigen Lagern sicher sind. Und sich ihre Patrouillen nur schwer bewaffnet und mit Begleitung von Drohnen und Hubschraubern aus dem Lager trauen.
Im Vergleich zu Afghanistan gibt es einen gewaltigen Unterschied: die Ausrüstung. Die Taliban wurden von keinem Land mit modernen Waffen beliefert. Die Ukraine hingegen ist in sehr großem Maßstab mit Panzerabwehrwaffen und tragbaren Luftabwehrraketen ausgestattet. Moskau wird die großen Luftverteidigungssysteme mit ihren Kettenfahrzeugen und Radaranlagen ausschalten und wohl auch die T-64 Panzer der Ukraine vernichten, aber Waffen, die bei jedem Golf in den Kofferraum passen, wird eine Invasionsarmee nie komplett beseitigen können.
Kiew hat jetzt Zeit, sich auf eine dezentrale Kriegsführung einzustellen und diese Waffen von großen Depots in kleine verstreute geheime Lager zu verlegen. Die Erfahrungen im Partisanenkrieg während der Besatzung durch Nazi-Deutschland werden in der Zeit einer Besatzung durch Putin-Russland helfen. Anstelle eines raschen Sieges kann sich die Ukraine so zu einem Abgrund für Russland entwickeln, in dem permanent junge Soldaten und Ausrüstung verschwinden. Das "Zeitalter Putins" könnte mit dem Überfall auf die Ukraine nicht beginnen, sondern zu seinem Ende kommen.
Ein Grund zur Freude ist das nicht: Guerillakriege zählen stets zu den grausamsten Kriegen überhaupt mit dem größten Anteil ziviler Verluste. Es wird dann Denunzianten und Kollaborateure geben, Todesschwadronen werden nachts ausschwärmen und Widerständler werden in Lagern verschwinden. All das würde über die unglückliche Ukraine hereinbrechen – über Jahre.