Der Satz, den Alexis Tsipras 30 Flüchtlingen mit auf dem Weg gab, die gerade per Flugzeug von Athen nach Luxemburg aufbrachen, hätte freundlicher nicht klingen können. Auch wenn in ihm sowohl Verzweiflung als auch eine Warnung mitschwang: "Heute haben Sie die Möglichkeit, eine Reise in die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu machen", sagte der Athener Regierungschef den sechs Familien aus Syrien und Irak - die ersten Asylsuchenden, die innerhalb Europas umgesiedelt wurden. Wäre Tsipras Polizist und sein Land ein Unfallort, hätte er vielleicht gesagt: 'Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen'. Tsipras aber ist kein Polizist und so entscheid er sich für die diplomatische Version dessen, was er eigentlich meinte: "Eine Zukunft wird es für Sie hier nicht geben".
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Vermutlich ist Tsipras selbst verzweifelt darüber, wie sehr sein Land überfordert ist mit den Massen, die täglich über die Ägäis kommen. Und das darüber hinaus so unattraktiv ist für die flüchtenden Menschen, die lieber nach Deutschland wollen oder Schweden. Kann man es ihnen verübeln? Im Hafen von Mytilini auf Lesbos, keine 20 Kilometer vom türkischen Festland entfernt, warten mindestens 6000 Menschen darauf, die Insel Richtung Piräus verlassen zu können. Doch sie sitzen fest, weil die dortigen Seeleute streiken und den dritten Tag in Folge die Fähren ausfallen.
Europa steht sich selbst im Weg
Kaum verwunderlich, dass die Geduld der nur notdürftig untergebrachten Migranten am Ende ist: Dienstagabend protestierten sie gegen ihren Zwangsaufenthalt, und selbst das Bitten und Flehen von Behörden und humanitären Organisationen hilft nichts. "Der Streik gegen Rentenkürzungen soll bis Samstag dauern"; heißt es rigoros bei der zuständigen Gewerkschaft. Auf Lesbos prallt wie kaum an einem anderen Ort die selbstverschuldete Schuldenkrise Griechenlands auf die harschen Sparauflagen der EU auf die Not von Menschen, die sich vor Krieg und Gewalt in ihren Heimatländern in Sicherheit bringen wollen. Unzählige Flüchtlinge sind in den vergangen Monaten vor Lesbos gekentert, die Insel hat auf ihren Friedhöfen längst keinen Platz mehr für die vielen Toten. Lesbos ist das Sinnbild dafür geworden, wie sich Europa derzeit vor allem selbst im Weg steht.
Beschämend für die EU sei das Drama, das sich nun schon seit Jahren in der Ägäis abspielt, sagte Tsipras in seiner Rede. Beschämend aber war es auch, als die Athener Regierung im Frühjahr damit drohte, alle Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, sofort weiter nach Nordeuropa zu schicken, sollte die EU nicht endlich die Geldbörsen öffnen. Nun ist genau das eingetreten. Allerdings nicht aus einem Akt der Rache heraus, sondern aus purer Verzweiflung.
Fünf Prozent der Bevölkerung sind Flüchtlinge
Denn was Griechenland an Geld fehlt, hat es an Flüchtlingen zu viel. 601.638 Menschen, vor allem aus Syrien und Afghanistan, sind dort allein in diesem Jahr angekommen. Vergangenes Jahr waren es 23.000, 2013 7000. Zusammen entspricht dies mehr als fünf Prozent der griechischen Bevölkerung. Würde Deutschland den gleichen Anteil an Flüchtlingen aufnehmen, wären das rund vier Millionen Menschen. Tatsächlich sind es nicht einmal 400.000 und dennoch hallt das Stöhnen von Politik und Leuten laut über den gesamten Kontinent. Auf Hilfe aber warten Deutschland und Griechenland bislang vergeblich.
Vor einigen Wochen haben sich die EU-Staaten auf die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen geeinigt. 120.000 von 600.000 - doch selbst dieser kleinstanzunehmenden Menge wollten nicht alle Mitgliedsländer zustimmen: Ungarn, Tschechien, Rumänien und die Slowakei lehnen die Quote ab. Die rechts-konservative Mehrheit im Budapester Parlament hat am Dienstag eine Resolution gegen die Flüchtlingsverteilung verabschiedet. Das heißt, Ungarn ist raus, die Slowakei wird wohl folgen. Dessen EU-Abgeordneter Richard Sulik wetterte in der ZDF-Sendung "Menschen bei Maischberger" lauthals gegen die (deutsche) Flüchtlingspolitik, sein Gezeter gipfelte in der Aussage: "100 tote Kinder pro Monat sind doch eine Folge der humanistischen Politik, die den Menschen vorgaukelt, es seien hier alle willkommen." Garstiger geht es kaum: Denn das heißt nichts anderes als dass nur eine inhumane Politik, die Flüchtlinge irgendwo auf dem halben Weg versauern ließe, Menschenleben retten würde.
Die Menschen verschwinden nicht wieder so schnell
Der Ton über die Asylsuchenden in der EU ist längst vergiftet. Da hilft es auch wenig, dass zum Beginn der großen Flüchtlingsverschiebeaktion am Athener Flughafen eine kleine Feier stattfand. Anwesend waren neben Tsipras EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, Migration-Kommissar Dimitris Avramopoulos und der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn. Öffentlichkeitswirksam grinsten sie in die Kameras und taten so, als würde die Verschickung von gerade einmal 30 Menschen der Beginn der großen Lösung sein. Tatsächlich aber verabschiedet sich nach und nach Land für Land aus der Solidarität. Doch die Menschenmassen, die sich an den Grenzen auftürmen, werden nicht wieder verschwinden. Das Problem wird nur vor die Haustür gekehrt. Im schlimmsten Fall nicht einmal vor die eigene.
Vielleicht ist es Zeit, dass die großen Industrienationen der Welt demnächst ein Machtwort sprechen. Mitte November treffen sie sich zum G20-Gipfel im türkischen Antalya. Donald Tusk und Jean-Claude Juncker erwarteten "koordinierte und innovative Antworten" zur Flüchtlingskrise, schrieb das aktuelle EU-Führungsduo unmissverständlich an sämtliche Mitgliedstaaten.