Es ist kurz vor Mitternacht, als sich die drei jungen Frauen vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv auf den Bordstein setzen. "Sie testen unsere Ausdauer", sagt Alma Beck, 35, die den ganzen Abend schon ein Schild mit sich herumträgt. "Geisel-Abkommen – Waffenstillstand", steht darauf. Seit Stunden stehen sie und ihre zwei Freundinnen hier und rufen: "Bringt sie nach Hause, jetzt", in Richtung der verglasten Türme, hinter denen die Politiker verhandeln. Die Regierung diskutiert darüber, ob und zu welchen Bedingungen Israel den Deal mit der Hamas annehmen soll. Der lautet: 50 Geiseln, die die Terrororganisation im Gazastreifen gefangen hält, sollen ausgetauscht werden gegen mehr als dreimal so viele palästinensische Gefangene. Dazu soll es einen zeitlich begrenzter Waffenstillstand geben und womöglich LKW-Lieferungen in den Gazastreifen – was der Hamas eine Atempause und neue Ressourcen verschaffen würde.
Hunderte von Demonstranten schreien ihre Verzweiflung in den Nachthimmel hinauf, unter ihnen mehrere Mütter, deren Kinder verschleppt wurden.
"Worauf wartet ihr?", ruft eine in ihr Megafon. "Worauf wartet ihr?", schließt sich die Gruppe hinter ihr an. Alma und ihre Freundinnen kennen, wie fast alle in Israel, betroffene Familien. Sie sagen. "Die Regierung will Stärke zeigen, indem sie nicht sofort zustimmt. Aber wir brauchen die Menschen jetzt zurück in Sicherheit."

Demonstration gegen Geisel-Deal
Auf der anderen Straßenseite, getrennt von einem Zaun und vier Fahrspuren, demonstrieren eine Handvoll Menschen gegen das Geisel-Abkommen. Ein älterer Mann sagt: "Wenn wir gegenüber der Hamas einknicken, ihren Bedingungen zustimmen und ihnen eine Pause gönnen, dann wird es bald noch viel mehr israelische Opfer geben." Ein junger Mann schreit in Richtung des Ministeriums: "Verhandelt nicht mit dem Teufel!"
Er rennt hinüber zu den Gegendemonstranten, ruft weiter. Eine Frau redet auf ihn ein – wie er es wagen könne, die Geiselfamilien so vor den Kopf zu stoßen. Er solle erstmal Vater werden, dann könne er verstehen, wie es den Familien geht. Die beiden beginnen zu streiten.
Auch die Kabinettsmitglieder sind sich teils uneins, wie man mit der Situation umgehen solle: Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich – beide stark rechtsgerichtet – sträubten sich bisher gegen den Deal.
Ein Land im Schwebezustand – und vor der Frage: Wer wollen wir sein?
Ein Land, das nicht nachgibt, das als Antwort auf die Massaker ohne Zögern und Rücksichte Hamas zerstört? Oder eines, das die Geiseln schnellstmöglich lebendig aus Gaza zurückzubringt – auch wenn das zu militärischer Schwäche führt? Regierung und Armee haben sich beides zum Ziel gesetzt. Aber geht das wirklich?
Wer wird aus Gaza befreit?
Ismail Haniya, der in Katar ansässige politische Führer der Hamas ließ in den vergangenen Tagen verlauten, die Gruppe stehe "kurz vor einem Waffenstillstandsabkommen" mit Israel. Und auch Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sagte schon mehrmals, er hoffe, bald "gute Nachrichten" über die Geiseln zu erhalten. Doch welche der 50 von 236 Geiseln aus Israel sollen aus der Hamas-Gefangenschaft befreit werden? Laut verschiedenen Medienberichten sollen es vor allem Kinder und Mütter sein. Bis zur tatsächlichen Befreiung kann sich jedoch noch einiges ändern.
Familien und Freunde bangen nun, ob ihre Angehörigen auch unter den Befreiten sein könnten. Was ist mit Frauen ohne Kinder? So wie die 26-jährige Noa Argamani. Sie wurde als das "Mädchen auf dem Motorrad" bekannt: Eines der ersten Videos vom Terroranschlag vom 7. Oktober zeigte, wie Terroristen sie vom Nova-Festival in der Negev-Wüste verschleppten und sie beim Wegfahren rief: "Tötet mich nicht!".

Ihre Freunde stehen auf dem Platz der Geiseln und Vermissten – so haben die Angehörigen den Museumsplatz in Tel Aviv getauft. "Wir haben Noas Eltern versprochen, eine Feier zu organisieren, sobald sie zurück ist", erzählt Daniel Ashwa, 27. Dass das bald passiert, wagen die Freunde aber noch nicht zu glauben: "Man kann den Terroristen nicht trauen. Bis ich Noa umarme, glaube ich nicht, dass sie frei ist." Sein Freund Sugi Hecht sagt: "Vielleicht denkt die Hamas, wenn sie Mütter und Kinder befreien, lässt der Druck aus dem Westen nach." Noa ist keine Mutter, keine Seniorin, kein Kind, sie werde wohl nicht unter den Befreiten sein.
Auf dem gesamten Platz, zwischen Israel-Fahnen, Plakaten der Vermissten und Angehörigen, die zum Trost miteinander singen und beten, stellen sich Menschen die Frage: Wird mein Bruder, mein Großvater, meine Schwester befreit? Alle betonen sie: Wir freuen uns über jeden Einzelnen, der aus Gaza zurückkommt. Und alle hoffen sie: Vielleicht, ja ganz vielleicht, ist es unsere Tochter, unser Vater, unsere Schwester.
Die Familie der entführten Deutsch-Israelin Yarden Roman versucht, ihre Hoffnungen nicht zu groß werden zu lassen. Die 36-Jährige ist zwar Mutter. Aber ihr kleines Kind ist den Terroristen knapp entkommen. Deshalb bezweifelt die Familie, dass Yarden zu den ersten 50 Befreiten gehören wird.
Deutsch-israelische Familie Roman
Die 25-jährige Schwester der Verschwundenen, Roni Roman, sitzt zuhause in der Wohnung in Givat’ayim, bei Tel Aviv. "Ob Yarden Teil dieses Deals ist oder nicht: Er muss zustande kommen", sagt sie. Viele Leute forderten die Freilassung aller israelischen Geiseln gleichzeitig, aber man müsse wohl damit klarkommen, dass erst ein paar wenige Entführte freigelassen würden.
"Nur wenn ein Deal Nummer eins zustande kommt, gibt es auch einen Deal Nummer zwei und Nummer drei und irgendwann – das weiß ich – wird Yarden dabei sein." Roni Roman sitzt eingekuschelt in einen Ringelpullover auf dem Sofa, es wird kälter in Israel. Vor mehr als sechs Wochen, als ihre Schwester entführt wurde, waren es jeden Tag hier noch mehr als 30 Grad.
Die Studentin hat – wie andere Familienmitglieder auch – ihr Leben seitdem umgekrempelt und kämpft jeden Tag für die Rückkehr. Das Wichtigste für sie: Yardens kleine Tochter Geffen, drei Jahre alt. Roni erzählt: "Wenn Geffen in den letzten Wochen ein Spiel vorschlägt, dann ist es Verstecken. Verstecken vor den Bösen. Dann fliehen vor den Bösen. Den Kuschelbär Puh retten vor den Bösen." Ihre Mutter wurde vor Wochen mitgenommen und ist seitdem weg. Das weiß Geffen, denn sie kam selbst nur durch Verstecken davon.
Familie Roman – und auch viele andere Angehörige von Geiseln, die dieser Tage in Tel Aviv auf die Straße gehen – versuchen, die Gerüchte über Freilassungen in den Medien zu ignorieren. Zu oft wurde schon gesagt, man stehe kurz vor der Befreiung der Geiseln. Zu häufig wurde die Hoffnung enttäuscht.
Es ist schon spät in der Nacht, als das Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu schließlich bekannt gibt: Das Kabinett hat für den Deal gestimmt. 50 Geiseln sollen freikommen, es wird eine viertätige Feuerpause geben. Es soll sich um 30 Kinder, acht Mütter sowie zwölf ältere Frauen handeln. Auch eine Verlängerung der Feuerpause ist möglich. Pro Tag müsste die Hamas dann jeweils zehn weitere Geiseln freilassen. Israel geht davon aus, dass so insgesamt 80 Geiseln freikommen könnten.
Die schrittweise Freilassung der Geiseln könnte bereits am Donnerstag beginnen – das Bangen vieler Angehöriger wird aber weitergehen.