Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Sebastian Kurz im Fokus der Justiz – können diese Vorwürfe den Bundeskanzler zu Fall bringen?

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) steht unter Druck
© Helmut Fohringer / APA / DPA
Er habe "ein absolut reines Gewissen", sagt Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz zu den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen ihn. Zu Recht? Diese Lügen werden dem Regierungschef vorgeworfen.

Das hat es in Österreich noch nie gegeben: Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien ermittelt gegen den amtierenden Regierungschef. Der Verdacht der Strafverfolger: Bundeskanzler Sebastian Kurz hat vor dem sogenannten Ibiza-Untersuchungsausschuss des Parlaments gelogen. Eine solche Straftat wäre keine Bagatelle. Das österreichische Strafgesetzbuch sieht für "falsche Beweisaussage" im äußersten Fall eine Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren vor. Kurz bestritt den Vorwurf mehrfach öffentlich, für ihn gelte die Unschuldsvermutung.

Der Ibiza-Untersuchungsausschuss wurde im Januar vergangenen Jahres eingesetzt, nachdem im Mai 2019 das Skandalvideo aufgetaucht ist, das die Bereitschaft zur Korruption und zur verdeckten Übernahme von Medien durch den damaligen Heinz-Christian Strache und seinen Chef der seinerzeit mitregierenden FPÖ, Johann Gudenus, dokumentiert hatte. Unter dem Titel "Untersuchungsausschuss betreffend mutmaßliche Käuflichkeit der türkis-blauen Bundesregierung" wollen die Abgeordneten seither mögliche Korruption, aber auch das angebliche Postengeschacher und dubiose Parteispenden im Umfeld von Sebastian Kurz unter die Lupe nehmen.

Der 34-jährige Regierungschef sagte am 24. Juni 2020 als sogenannte Auskunftsperson vor dem Ausschuss aus. Die Befragung ging über mehrere Stunden, das Protokoll umfasst 83 eng bedruckte A4-Seiten. Nach Ansicht der Oppositionspartei Neos, die neben anderen Anzeige gegen Kurz erstattet hatte, nahm es der ÖVP-Politiker dabei an mehreren Stellen nicht allzu genau mit der Wahrheit.

Staatsanwaltschaft ermittelt wegen möglicher Falschaussagen

Die Magazine "Profil" und  "Falter" veröffentlichten das zentrale Aktenstück der Staatsanwaltschaft: die Mittelung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (Aktenzeichen 17 St 5/19d). Auf 58 Seiten werden die Vorwürfe detailliert dargestellt. Demnach halten die Ermittler mehrere Falschaussagen Kurz' für möglich:

  • "Nein, es war allgemein bekannt, dass ihn das grundsätzlich interessiert, und es war sicherlich auch so, dass immer wieder davon gesprochen wurde, dass er ein potenziell qualifizierter Kandidat wäre", sagte Kurz laut Protokoll auf die Frage, ob er seinem früheren Finanz-Kabinettschef Thomas Schmid einen Posten bei der staatlichen Holding Österreichische Beteiligungs-AG (Öbag, hält unter anderem Anteile an den Casinos Austria und dem Mineralölkonzern OMV) angetragen hatte. Nach der Befragung wollte Kurz das "Nein" aus dem Protokoll streichen lassen, und seine Antwort in "Es war ja allgemein bekannt, ..." ändern lassen. Der nachträgliche Wunsch wurde abgelehnt. Ist das "Nein" die erste Lüge?
  • Zum selben Komplex wurde Kurz befragt, ob er im Vorfeld in die Berufung Schmids zum Öbag-Chef eingebunden gewesen sei. "Eingebunden im Sinne von informiert, ja", antwortete der Bundeskanzler. Allerdings legen laut Staatsanwaltschaft Chatnachrichten etwas anderes nahe. Die Rolle von Sebastian Kurz wäre also deutlich aktiver gewesen, als er es im Untersuchungsausschuss behauptet hatte. Die zweite Lüge?
  • Laut Staatsanwaltschaft hatte sich Sebastian Kurz bereits im Herbst 2018 mit dem Thema der Öbag-Aufsichtsräte befasst. Bei seiner Befragung gab der Regierungschef jedoch an, er wisse lediglich, "dass es im Finanzministerium und im Nominierungskomitee Überlegungen und Gespräche gab". Als Bundeskanzler habe er jedoch keine Entscheidungen dazu getroffen. Eine weitere Lüge?
  • Die Ermittler gehen davon aus, dass Sebastian Kurz eine Vereinbarung zwischen Schmid und einem weiteren Manager über Postenvergaben kannte, während der Bundeskanzler dies in der Befragung verneinte. "Die Aussage von Sebastian Kurz, er habe 'keine Ahnung', was die vereinbart hätten (...), ist daher objektiv unrichtig", so die Staatsanwaltschaft. Kurz' Lüge Nummer vier?

Alles in allem erwecken die Chatnachrichten von Kurz, Schmid und auch Finanzminister Gernot Blümel (gegen den die Staatsanwaltschaft ebenfalls ermittelt) den Eindruck, dass man sich in der ÖVP über Schmids zukünftige Rolle sicher war – und das schon einige Monate bevor der unabhängige Öbag -Aufsichtsrat im März 2019 die Personalentscheidung für Schmid fällte.

Sebastian Kurz schließt Rücktritt auch bei Anklage aus

Die Staatsanwaltschaft fasst zusammen: "Demnach hat Sebastian Kurz im Untersuchungsausschuss tatsachenwidrig die ab Ende 2017 mit dem gemeinsamen Bestreben, Thomas Schmid für die ÖVP zum Alleinvorstand der Öbag zu nominieren, geführten Gespräche und Telefonate sowie den diesbezüglichen Austausch in Chats mit diesem in Abrede gestellt und behauptet, er sei nur informiert, aber nicht darüber hinaus gehend eingebunden gewesen". Und weiter: "Ebenso tatsachenwidrig bestritt er Wahrnehmungen zur Besetzung des Aufsichtsrates der Öbag, obwohl er die faktische Entscheidung, welche Mitglieder von der ÖVP nominiert werden, tatsächlich selbst getroffen hatte."

Der ehemalige österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache spricht in einer Villa auf Ibiza mit der angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen über Parteispenden, die Übernahme der Kronen Zeitung und die Vergabe von Staatsaufträgen.
Der ehemalige österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache spricht in einer Villa auf Ibiza mit der angeblichen Nichte eines russischen Oligarchen über Parteispenden, die Übernahme der Kronen Zeitung und die Vergabe von Staatsaufträgen.
© SPIEGEL / Süddeutsche Zeitung / weitere
Dieses Video hat die österreichische Staatskrise ausgelöst und Strache zu Fall gebracht
© SPIEGEL / Süddeutsche Zeitung

Es sind bisher nur Vorwürfe, doch die allein haben es in sich. Die Ermittlungen gegen den Bundeskanzler sind ein bemerkenswerter Vorgang. Wohl auch deshalb wagte er am Mittwochabend den – für ihn ungewöhnlichen – Schritt einer Flucht nach vorne und gab dem ORF-Journalisten Armin Wolf ein rund 25-minütiges Interview.  Die Vorwürfe des Postengeschachers und der Falschaussagen wollte Kurz nicht auf sich sitzen lassen. Einziges Ziel der Anzeigen der Opposition sei es, ihn "mit allen Mitteln aus dem Amt zu befördern", so der Bundeskanzler in der Nachrichtensendung "ZiB2". Er habe sich stets bemüht, die Fragen im Parlament wahrheitsgemäß zu beantworten und habe "ein absolut reines Gewissen". Er kritisierte, dass im Untersuchungsausschuss versucht werde, Worte im Mund umzudrehen und Menschen "irgendwie in eine Falschaussage hineinzudrängen".

Für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, machte Sebastian Kurz eines klar: "Ich werde selbstverständlich nicht zurücktreten." Ob er auch bei einer eventuellen Verurteilung als dann vorbestrafter Bundeskanzler im Amt bleiben würde, ließ Kurz auf mehrfache Nachfrage Wolfs offen. Auch das hätte es in Österreich noch nie gegeben.