Er ist fast vorbei, der Krieg, der alle Kriege beenden sollte - "the war to end all wars". Der entsetzliche Erste Weltkrieg. Noch liegen die Toten in den Schützengräben; Rumänen, Litauer und Serben kämpfen weiter untereinander; britische Soldaten töten Afghanen, Inder, Ägypter und Iren. Und werden von ihnen getötet. Und als wäre das Blutvergießen nicht genug, leidet Europa unter Hunger, unter Cholera und Typhus, und ein tödliches Grippevirus rafft die Schwachen hinweg.
In all dieses Elend flattern Flugblätter, die eine bessere Zeit verkünden: Die Menschen in Europa lesen die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson wie eine Offenbarung. Da spricht ein Mann aus der Neuen Welt, der keinen Anteil hat an den Rivalitäten und Ambitionen der europäischen Machthaber. Er schreibt von einem gerechten Frieden - und er verspricht, was bis dahin nur Philosophen wie Immanuel Kant oder Jean-Jacques Rousseau sich erträumt haben: eine Gemeinschaft der Völker, die Kriege verhindern soll.
Wie ein Messias
der neuen Weltordnung wird der amerikanische Präsident in Europa im Dezember 1918 empfangen. In Italien brennen Kerzen vor seinem Porträt, die Pariser Champs-Elysées erstrahlen unter der Leuchtschrift "Vive Wilson!". Auf der "Washington" ist er gekommen, hat wie gewohnt jeden Morgen und Abend auf den Knien zu Gott gebetet, erfüllt von dem tiefen Glauben, dass er der "alten Welt" den Krieg austreiben müsse: "Dieser Friedensvertrag wird ein für allemal die alte Ordnung beenden, unter der kleine Gruppen egoistischer Männer die Menschen großer Länder für ihre eigenen Machtansprüche benutzen können."
In Paris trifft dieser christliche Idealist auf die Realpolitiker jener Alten Welt, allen voran Georges Clemenceau, den zynischen Premierminister Frankreichs. Der kleine, runde Mann mit der Halbglatze kennt kein Pardon. Er will Deutschland mit dem Friedensvertrag endgültig in die Knie zwingen. Nie wieder soll Frankreich von der anderen Seite des Rheins angegriffen werden. Und Deutschland soll zahlen.
Innerhalb kürzester Zeit lässt diese Unerbittlichkeit auch die alte Feindschaft mit Großbritannien wieder aufbrechen. Denn Premierminister David Lloyd George will die Deutschen als Handelspartner nicht in den Bankrott treiben.
Mindestens einmal muss Wilson zwischen die Kampfhähne treten, weil Lloyd George seinen französischen Kollegen mit erhobenen Fäusten bedroht und eine Entschuldigung für Clemenceaus Beleidigungen verlangt. Der sagt nur: "Darauf kannst du so lange warten wie auf den Frieden in Irland." Mit solchen Schwierigkeiten hat Wilson nicht gerechnet. Zu wenig weiß er offensichtlich von den komplizierten europäischen Verwicklungen, von Minderheiten, die nun ihre Freiheit verlangen, und von Grenzen, die seit Jahrhunderten umstritten sind. Für ihn zählt nur, dass der zukünftige Völkerbund fest eingebunden wird in einen Friedensvertrag und damit in die Nachkriegsordnung. Clemenceau kann mit Wilsons Idealismus wenig anfangen. Kopfschüttelnd sagt er: "Es ist, als würde man mit Jesus sprechen - doch sogar der Allmächtige hat uns nur zehn Gebote gegeben und keine 14 Punkte."
Wie ein Besessener
arbeitet Wilson für seine Vision. Nachts trifft sich ein Komitee unter seiner Leitung, um die Satzung des Völkerbundes im Zimmer 315 des Pariser Hotels Crillon mit Blick auf den Place de la Concorde auszuarbeiten. Tagsüber sitzt er im Uhrenzimmer des Außenministeriums am Quai d´Orsay und hört sich an, was die Siegermächte verlangen. Am Ende ist es ihm wichtiger, dass der Völkerbund gegründet wird, dafür opfert er den fairen Frieden, den er in seinen 14 Punkten versprochen hatte: Gerechtigkeit, keine Rache. Jetzt soll Deutschland 226 Milliarden Goldmark an Reparationen zahlen, das Saarland, Danzig und Oberschlesien aufgeben, insgesamt 12 Prozent seines Staatsgebiets und 75 Prozent seiner Eisenvorkommen. Die Deutschen fühlen sich verraten.
Am 28. April 1919
verabschiedet die Pariser Friedenskonferenz die Völkerbundsatzung als ersten Teil des Versailler Vertrages, der den Weltkrieg offiziell beendet. Deutschland unterzeichnet im Juni unter Protest. Die Menschen auf der ganzen Welt sind enttäuscht von diesem Papier, auf das sie ihre Zukunft gesetzt haben.
In Japan müssen die zurückkehrenden Delegierten vor einem wütenden Mob geschützt werden, Clemenceau und Lloyd George verlieren die Unterstützung ihrer Wähler. Die größte Niederlage aber erleidet Wilson selbst. Monatelang hat er Amerika vernachlässigt. Zurück in Washington, erfährt er, dass die Opposition den Vertrag zu Fall bringen will. "Stellen Sie sich nur vor, dass bald Fragen des Überlebens der Vereinigten Staaten vor einem Tribunal entschieden werden, in dem die Stimmen von Niggern aus Liberia, aus Honduras, Indien oder Siam den gleichen Wert haben wie die Stimme der großen Vereinigten Staaten", schürt der republikanische Senator James Reed den Widerstand im Volk.
Statt sich diesem Streit zu stellen,
flieht Wilson aus Washington. Er besteigt einen Sonderzug, "Mayflower" genannt, und reist wie ein Besessener durchs Land, hält 40 Reden in 22 Tagen. Das ist zu viel für seine angeschlagene Gesundheit. Am 4. Oktober 1919 erleidet der Präsident einen schweren Schlaganfall. Monatelang verschwindet er in einem Krankenzimmer. Kontakt zur Außenwelt hält nur seine Frau Edith. Sie entscheidet, welche Briefe ihn erreichen und welche nicht. Wilsons einziger Kommentar zu den politischen Diskussionen im Senat: "Alles oder nichts! Jede Änderung an der Völkerbundsatzung ablehnen!" So votiert zwar mehr als die Hälfte der Senatoren für den Beitritt zum Völkerbund, doch die benötigte Zweidrittelmehrheit findet er nicht. Der Stuhl der Vereinigten Staaten im Völkerbundrat wird immer leer bleiben - eine Katastrophe für die neue Organisation.
Am 16. Januar 1920 tritt der Rat, der ähnliche Funktionen wie der heutige UN-Sicherheitsrat hat, zum ersten Mal in Genf zusammen. Ihm gehören die vier ständigen Mitglieder Frankreich, Großbritannien, Japan und Italien an und am Anfang vier nichtständige Mitglieder, die von der Völkerbundversammlung jedes Jahr neu gewählt werden. Vor allem die Franzosen fühlen sich verraten. Sie hatten eine Weltarmee gefordert, die Beschlüsse des Völkerbundes durchsetzen kann. Amerikaner und Briten haben sie vertröstet, die USA übernähmen die Garantie für die Sicherheit Frankreichs, doch ausgerechnet diese Schutzmacht ist nun nicht mit von der Partie. Außer moralischen Ermahnungen und der nicht näher definierten Möglichkeit von Sanktionen enthält die Satzung des Völkerbunds keine konkreten Strafen für Aggressoren. Dennoch machen die Franzosen zunächst mit.
Sir James Eric Drummond, ein britischer Karrierebeamter, wird der erste Generalsekretär. Er kauft das Genfer Hotel National, lässt die Duschen aus den zukünftigen Büros herausreißen und den Frühstücksraum zum Sitzungssaal umbauen. Bald gibt es in der Bar nebenan Cocktails mit Namen wie "Völkerbund" oder "Vermittlung" (eine Orangeade).
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag nimmt seine Arbeit auf, ebenso die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die Arbeitszeiten und Löhne weltweit zu verbessern sucht. Sie besteht noch heute. Der Hochkommissar für Danzig wie auch die kommissarische Regierung für das Saarland werden vom Völkerbund entsandt. Deren Beamte bereiten die Abstimmung über Oberschlesiens Anschluss an Deutschland vor. Großbritannien und Frankreich übernehmen die Mandate für Palästina, den Irak, Togo und Kamerun, die sie in die Unabhängigkeit führen sollen – im Fall Palästinas bis heute ohne Ergebnis.
Die ersten Konflikte
lassen nicht lange auf sich warten. Der polnische Militär- und Staatsführer Jozef Pilsudski lässt 1920 die Stadt Wilna besetzen; Litauen ruft den Völkerbund an. Eine Kommission des Völkerbunds hört sich monatelang die historisch verwickelten Argumente beider Seiten an. Am Ende gewinnen die Besatzer. Wilna wird Polen zugesprochen.
Die Franzosen besetzen 1923 das Ruhrgebiet, und der Völkerbund hält wieder still: Er fühlt sich nicht zuständig. Im selben Jahr lässt der italienische Diktator Benito Mussolini die Insel Korfu bombardieren, um die Ermordung dreier italienischer Offiziere auf griechischem Boden zu rächen. Die Meinung des Völkerbundes kümmert ihn einen Dreck. Allenfalls auf die Konferenz der Siegermächte ist er bereit zu hören, und auch das erst, als Griechenland eine hohe Entschädigung zahlt. Der Völkerbund trifft das erste Mal auf den faschistischen Diktator, der ihm 1935 den Todesstoß versetzen wird.
Im Schatten dieser Verhandlungsschauspiele
entwickelt sich der wahre Erfolg des Völkerbundes, personifiziert in der Gestalt eines wettergegerbten Polarforschers, der gern morgens um acht im winterkalten Genfer See badet. Der Norweger Fridtjof Nansen wird zum Gewissen - manche sagen, der private Heilige - des Völkerbundes. Zu Fuß war er über die Weite des Polareises gezogen, aber dies war nichts im Gegensatz zu dem, was er nun nach seiner Berufung zum Hochkommissar für Flüchtlinge 1921 leisten wird - oft ohne große Unterstützung des Völkerbunds.
Innerhalb eines halben Jahres schickt er 430 000 Kriegsgefangene in ihre 26 Heimatstaaten zurück. In Russland findet er seine wahre Aufgabe: Die Einwohner verhungern. Auf den Märkten wird gesalzenes Menschenfleisch verkauft; Horrorgeschichten von Kindern, die ihre Geschwister aufgegessen haben oder sich in Brunnen stürzen, um nicht zu verhungern, machen die Runde. Russland liegt nach Jahren der Revolutionswirren brach, von 20 Millionen Menschen hungern 16 Millionen, acht von zehn Säuglingen sterben. "Helft doch, helft!", brüllt Nansen in die Gesichter der Völkerbundversammlung. Doch die kann sich dazu nicht durchringen, weil keiner die Bolschewiken unterstützen will. Nansen beginnt sein eigenes Hilfswerk: Millionenspenden sammelt er, kann dank der Hilfe des amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover ganze Zugladungen Mais in die Hungerzone schicken und stiftet das Geld seines Nobelpreises, den er 1922 erhält.
Millionen Heimatlose
aus Russland, Armenien und Bulgarien tragen den Nansen-Pass mit dem Bild des weißhaarigen Norwegers bei sich. Damit haben sie das Recht, als anerkannte Flüchtlinge über Grenzen zu reisen und sich ein neues Auskommen zu suchen. Dies alles ist allein dem Engagement des Polarforschers zu verdanken - der Völkerbund empfiehlt meist nur die Bildung einer Kommission und bewilligt selten Gelder. In den Jahren vor seinem Tod 1930 wächst Nansens Enttäuschung: "Wir haben auf eine Abrüstung der Seelen gehofft, aber der nationale Hass wird schlimmer als jemals zuvor. Alles, was passiert, scheint die Katastrophe zu beschleunigen."
Nansens Hilfswerk entwickelt sich später zum Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, und aus der Gesundheitskommission des polnischen Doktors Ludwik Rajchman ist die heutige Weltgesundheitsorganisation (WHO) geworden. Rajchman muss als Jude 1939 auf Druck der faschistischen Staaten sein Amt aufgeben. Bis dahin hat er die effektivste Organisation des Völkerbundes geschaffen - und die einzige, die tatsächlich weltweit agiert.
Deutschland soll schon bald Mitglied des Völkerbundes werden. Wechselnde Regierungen in Berlin bestehen aber auf einem ständigen Sitz im Rat. 1926 schließlich hält Außenminister Gustav Stresemann seine erste Rede in Genf - ein weiterer Schritt zur Normalität, so denken viele. Ein Jahr zuvor hat Stresemann in den Verträgen von Locarno Deutschlands Westgrenzen anerkannt und damit auf Elsass-Lothringen verzichtet. Dafür erhält er zusammen mit seinem französischen Kollegen Aristide Briand den Nobelpreis.
In den Genfer Abrüstungsverhandlungen ist der Einsatz von Giftgas geächtet worden, schon vorher haben sich die USA, England, Italien und Japan zur Verkleinerung ihrer Flotten bereit erklärt. 1928 unterzeichnen 15 Nationen den Kellogg-Briand-Pakt, der den Krieg als Mittel der Politik ächtet. Der Völkerbund scheint tatsächlich den Frieden zu sichern.
Doch dann stürzt die Weltwirtschaftskrise 1929 die internationale Staatengemeinschaft in einen tiefen Abgrund. In Deutschland verliert die Reichsmark dramatisch an Wert, das Vertrauen in die Demokratie ist dahin. Japan nutzt die Gunst der Stunde und fällt 1931 in die chinesische Mandschurei ein. Offiziell sollen Chinesen eine japanische Eisenbahnlinie in die Luft gesprengt haben. Tatsächlich war es wohl ein Anschlag von Japanern in chinesischen Uniformen. Der chinesische Gesandte berichtet dem Völkerbund von furchtbaren Verbrechen der Japaner: Sie schlachten die Familien der Soldaten und begraben Hunderte bei lebendigem Leibe. Die Leichen chinesischer Militärs werden als Puppen für Bajonett-Übungen missbraucht.
Ein monatelanges Geschacher
beginnt, bei dem alle Seiten das Wort "Krieg" vermeiden. Die Japaner plündern und morden weiter. Die USA schicken einen Beobachter nach Genf - Generalsekretär Drummond hofft insgeheim, dass die USA endlich ihren Sitz einnehmen wollen. Doch er täuscht sich.
Der amerikanische Gesandte wird nach nur sechs Sitzungen abgezogen. Der Völkerbund entscheidet schließlich, eine Kommission in die Mandschurei zu schicken. Die kommt dort im April 1932 an, als Tokio bereits das gesamte Gebiet besetzt hat. Die Situation verschlimmert sich, als die Japaner Shanghai bombardieren, angeblich als Vergeltung für Übergriffe der chinesischen Bevölkerung auf japanische Mönche in der Hafenstadt. Tausende Zivilisten verbrennen vor allem in den Hospitälern. Jetzt ist es nicht mehr zu leugnen: Japan führt Krieg in offener Verletzung der Satzung des Völkerbundes. Doch der konferiert weiter. Einer neuen Kommission aus Genf kommt Japan mit seinem Austritt aus dem Völkerbund zuvor - und zeigt damit den Diktatoren der Welt, wie es mit der Weltgemeinschaft umspringen kann.
In Amerika und Europa wächst die Angst vor einem neuen Weltkrieg. Friedensinitiativen sammeln acht Millionen Unterschriften für eine Petition, die den Völkerbund an eine seiner Aufgaben erinnern soll: die Abrüstung. Eine weitere Sitzung der Abrüstungskonferenz soll im Februar 1932 stattfinden. Seit Jahren konferieren die Staaten bereits. Frankreich will nicht abrüsten, solange Deutschland nicht abgerüstet hat. Deutschland will nicht abrüsten, weil es angeblich noch gar nicht aufgerüstet hat. Und Italien unter Mussolini will schon gar nicht abrüsten. Die Konferenz wird vertagt.
Als sie im März 1933 wieder zusammentritt, ist Adolf Hitler in Berlin an der Macht. In Danzig besetzen Nationalsozialisten das Gewerkschaftshaus, in Oberschlesien werden Juden gejagt. Trotzdem wollen die anderen Staaten Deutschland nicht von der Konferenz ausschließen. Hitlers Antwort an den Völkerbund ist ein rhetorisches Meisterstück. "Sogar heute noch kann man sie nicht ohne das Gefühl lesen, dass dieser Mann sich ehrlich um Abrüstung und Frieden bemüht", sagt der Historiker F. P. Walters. Hitler findet dankbare Worte für die Friedensinitiative des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt; Krieg sei eine Torheit, erklärt er, und Deutschland liege nichts ferner als Angriffe auf irgendwen zu planen. Die deutsche Gefahr scheint gebannt.
Doch schon wenige Tage später überrascht Hitler die Welt mit der Ankündigung, Deutschland trete aus dem Völkerbund aus, und kurz darauf verkündet der Führer ganz offen, dass sich Deutschland wieder bewaffnen werde. In einer Volksbefragung am 12. November 1933 stimmen 95 Prozent der Deutschen für den Austritt.
Reichsmarschall Hermann Göring gibt die Existenz einer deutschen Luftwaffe zu, die laut Vertrag von Versailles verboten ist, und Hitler führt die Wehrpflicht ein. Im Saarland muss der Hochkommissar des Völkerbundes seinen Fahrer und seinen Butler als deutsche Spione entlassen. Dem Hochkommissar des Völkerbundes in Danzig stellen sich bei seinen Spaziergängen verzweifelte Menschen in den Weg, die ihn anflehen, ihnen bei der Flucht vor den Nazis zu helfen.
Im Dezember 1934 überfällt Italien Abessinien, das heutige Äthiopien. Schon lange will Mussolini seine Kolonien in Afrika ausdehnen. Empört lehnt er französische Angebote ab, am Horn von Afrika Land in Besitz zu nehmen, das hauptsächlich aus Sand und mückenverseuchten Oasen besteht: "Ich bin kein Sammler afrikanischer Wüsten."
Italienische Panzer dringen nach einem provozierten Grenzkonflikt in äthiopisches Gebiet ein. Der neue Generalsekretär des Völkerbundes, Joseph Avenol, befürwortet eine schnelle Lösung. Äthiopien will er Italien als Mandatsland überlassen. Schließlich habe der äthiopische König Haile Selassie den Sklavenhandel nicht abgeschafft, der vom Völkerbund geächtet worden war. Das Land sei unter italienischer Verwaltung besser dran.
Ein Aufschrei
der kleineren Staaten folgt, die Sowjetunion macht sich zu deren Fürsprecher: "Nichts gibt uns das Recht, Staaten innerhalb des Völkerbundes zu diskriminieren, nicht wegen ihrer Rasse, nicht wegen ihrer Führung und nicht wegen des Standes ihrer Zivilisation." Der Völkerbund beschließt Sanktionen gegen das faschistische Italien, sie werden aber nie wirklich eingehalten. Die USA etwa exportieren fleißig weiter.
Am 6. Mai 1935 erobern italienische Truppen die Hauptstadt Addis Abeba. Der kleine König reist nach Genf, um sich Gehör zu verschaffen. Denn dort dringt Mussolini inzwischen auf ein Ende der Sanktionen. Als Haile Selassie vor der Versammlung zu sprechen beginnt, buhen die italienischen Journalisten auf der Gallerie ihn aus und versuchen, ihn mit Rasseln am Reden zu hindern. Andere feuern den König an, der völlig ruhig und unbewegt am Pult steht. Als schließlich Ruhe einkehrt, beschreibt er, wie Äthiopier in die Senfgasschwaden der italienischen Soldaten gelaufen und gestorben sind, schreiend vor Schmerzen. Er sagt, dass Äthiopien für die politischen Interessen Einzelner geopfert worden sei. Und dass die heutige Entscheidung nicht nur das Schicksal seines Landes besiegele: "Es geht um die Existenz des Völkerbundes. Es geht um das Prinzip der Gleichheit aller Staaten. Gott und die Geschichte werden sich an euer Urteil erinnern - welche Antwort soll ich meinem Volk mitbringen?" Der Völkerbund hebt alle Sanktionen gegen Italien auf.
Damit ist die Weltorganisation am Ende.
Zum Spanischen Bürgerkrieg sagt sie nichts. Hitler annektiert 1938 Österreich, und dessen Stuhl wird im Völkerbund ohne Kommentar zur Seite geräumt. Weder die Tschechoslowakei noch Polen rufen den Völkerbund an, als Hitler sie überrennt. Ein einziges Mal tritt die Staatengemeinschaft noch in Aktion: Als die Sowjetunion 1939 Finnland angreift, wird sie sofort ausgeschlossen, ein Schritt, den das Gremium zuvor gegen keinen anderen Aggressor gewagt hat.
1940 bringt ein Mitarbeiter die Dokumente des Völkerbundes auf abenteuerlichen Pfaden in die USA: in einem Bus, der durch Frankreich, Spanien und Portugal holpert. Die Papiere landen bei einem Unfall noch in einem französischen Straßengraben, bevor sie nach New York und später zur Universität von Princeton geschafft werden.
Der letzte Generalsekretär des Völkerbundes, der Ire Sean Lester, hält in Genf aus, bewacht die Bibliothek und den "Palast der Nationen". Ende 1944 legt er sein Amt nieder und zieht sich zum Angeln nach Galway zurück. Am 19. April 1946 - der Zweite Weltkrieg ist noch kein Jahr beendet - trifft sich der Völkerbund zur letzten Sitzung und beschließt seine Auflösung.