Krieg in der Ukraine Angst um Babys und Leihmütter in der Ukraine: Wie ein Paar sein Kind aus dem Kriegsgebiet holt

Leihmutterschaft in der Ukraine: Deutsches Paar harrt bis zur Geburt im Krieg aus
Leihmutterschaft in der Ukraine: Deutsches Paar harrt bis zur Geburt im Krieg aus
© Lafargue Raphael/ABACA / Picture Alliance
Kurz vor Kriegsbeginn kommt das Ehepaar Matthias und Julia* aus Deutschland in Kiew an. Trotz des ausbrechenden Krieges wollen sie bleiben. Der Grund: Ihr ungeborener Sohn, der von einer Leihmutter ausgetragen wird. Wie erleben sie den Krieg? Und wie wollen sie zurück nach Deutschland kommen?

Matthias* schreckt hoch. Es ist etwa 5:30 Uhr. Was war das? Neben ihm ist auch seine Frau Julia* aus dem Schlaf gerissen worden. Eine Explosion in einer Fabrik? Plötzlich folgt eine weitere Detonation. Gleich darauf noch eine. Die Scheiben erzittern. Es ist der Morgen des 24. Februar, der Tag, der die Welt veränderte. Es herrscht Krieg in der Ukraine. Bis etwa 7 Uhr hören die beiden noch etwa 20 weitere Explosionen in der Ferne. Als Matthias aus dem Fenster im 9. Stock schaut, sieht er Menschen mit Koffern aus den umliegenden Häusern laufen. Auf der nahegelegenen Autobahn E40 hat sich stadtauswärts bereits ein langer Stau gebildet. Die Einwohner Kiews scheinen vorbereitet gewesen zu sein. Wahrscheinlich hatten sie schon lange ihre Koffer für die Flucht gepackt. Matthias und Julia hingegen haben gerade erst ihre Koffer ausgepackt. Und das soll vorerst auch so bleiben. "Wir müssen bleiben, wenigstens bis unser Kind zur Welt kommt," schreibt Matthias via WhatsApp. Denn das Ehepaar aus einer Kleinstadt bei Hamburg ist nach Kiew gereist, um ihr Kind abzuholen. Ihr Kind, das nicht bei ihnen ist, sondern im Bauch der hochschwangeren Polina, ihrer 26-jährigen Leihmutter.

Vier Tage vor Kriegsbeginn reist das Ehepaar morgens aus Berlin mit dem Zug ab. 24 Stunden sind die beiden unterwegs, bis sie Dienstagvormittag den Hauptbahnhof von Kiew erreichen. Der Ort, der wenige Tage später überfüllt sein wird mit Menschen, die in Panik schnellstmöglich ihre Heimatstadt verlassen wollen. Sergey, ihr Ansprechpartner der Leihmutterschaftsagentur "New Hope", holt das Paar ab. Sie haben sich für zwei Monate eine Wohnung in einem 18-geschössigen Hochhaus im Westen der Stadt gemietet. Theoretisch genug Zeit, um nach dem 11. März, dem errechneten Geburtstermin, bei der deutschen Botschaft in Kiew die Ausreisedokumente für das Kind zu beantragen, um als Familie nach Deutschland zurückzukehren. Doch es soll anders kommen.

Krieg in der Ukraine: Mädchen singt Lied aus "Frozen" in Schutzbunker
Krieg in der Ukraine: Mädchen singt Lied aus "Frozen" in Schutzbunker
Platz 9: Ukrainisches Mädchen singt Lied aus "Frozen" in Schutzbunker – und berührt damit Millionen

Sehen Sie im Video: Mädchen singt Lied aus "Frozen" im Schutzbunker – und berührt damit Millionen

15.000 deutsche Paare suchen nach einer Leihmutterschaft im Ausland

Matthias und Julia sind beide Anfang 40. Wie ihnen geht es vielen anderen ungewollt kinderlosen Paaren in Deutschland. Denn hierzulande ist die Leihmutterschaft verboten. Anders in der Ukraine, wo die gesetzlichen Regelungen lockerer sind. Die Leihmutter muss mindestens ein eigenes Kind haben und die Wunscheltern müssen heterosexuell sein und mindestens vier gescheiterte künstliche Befruchtungen erlebt haben. Die Kosten für ein solches Fortpflanzungsprogramm belaufen sich auf etwa 40.000 bis 60.000 Euro. Wie viele deutsche Paare ihr Kind im Ausland von einer Leihmutter austragen lassen, dazu gibt es keine verlässlichen Zahlen. Jedoch entscheiden sich immer mehr Paare für eine Kinderwunschbehandlung im Ausland.

Matthias und Julia reisen im Oktober 2018 erstmals in die Ukraine, um eine Agentur in Kiew und eine Kinderwunschklinik in Charkiw zu besuchen. Wenige Monate später, im April 2019, besuchen sie noch eine weitere Agentur in Kiew, entscheiden sich aber für die Klinik in Charkiw – der Stadt im Nordosten der Ukraine, in der seit Tagen heftig gekämoft wird. Der erste Versuch bleibt erfolglos. Auch der zweite im März 2020, mitten in der gerade ausbrechenden Corona-Pandemie, und der dritte Versuch im September 2020 bringen nicht das gewünschte Ergebnis.

Als die Klinik sie daraufhin drängt doch eine Eizellenspenderin zu wählen, wechseln Julia und Matthias die Agentur. Ihr Kind soll genetisch von ihnen beiden sein. Das haben sie sich sehnlichst gewünscht. Im März 2021 starten sie daher einen erneuten Versuch bei der kleinen Leihmutterschaftsagentur "New Hope" in Kiew. Hier fühlen sie sich sofort besser aufgehoben. Dieses Mal klappt es gleich beim ersten Versuch: Julias Eizelle entwickelt sich mithilfe einer Hormonbehandlung sehr gut, sodass diese befruchtet und eingesetzt werden kann. Polina, ihre Leihmutter, treffen sie im Oktober 2021 schließlich zur ersten gemeinsamen Ultraschalluntersuchung in Kiew. Zum ersten Mal sehen sie ihren kleinen Sohn strampeln. "Ein unbeschreibliches Gefühl", schreibt Matthias.

Etwa ein halbes Jahr später folgt auf die große Vorfreude nun die große Angst vor dem Krieg. Denn Matthias und Julia ist klar: Ohne ihr Kind werden sie auf keinen Fall die Stadt verlassen. Eigentlich sind sie mit Polina und ihren Söhnen in deren Wohnung verabredet gewesen, haben am Vortag noch Lego-Spielzeug als Mitbringsel für Sascha (6) und Alex (4) im Stadtzentrum besorgt. Doch es kommt anders: Kriegsbeginn. Anstatt mit ihrer hochschwangeren Leihmutter Kaffee und Kuchen zu essen, verfolgen sie die Nachrichten in ihrer angemieteten Wohnung und schmieden einen Notfallplan. Sie packen Notfallrucksäcke sowie ihre kleineren Koffer mit dem Nötigsten. Hemden, Blusen, die dritte Hose und Sportschuhe bleiben im großen Koffer, den sie bei ihrer Flucht zurücklassen würden.  Da Matthias Sorge hat, dass der Strom und die Wasserversorgung ausfallen könnte, beschließt er, die Badewanne volllaufen zu lassen und leere Getränkeflaschen mit Leitungswasser zu befüllen. "Wer weiß, was uns noch alles bevorsteht", meldet sich Matthias.

Sie schlafen auf kaltem Betonboden

In den ersten Tagen flüchtet das Paar nach Explosionen und Sirenengeheul mehrmals in den Keller ihres 18-stöckigen Wohnhauses. Zwischen abgeschlossenen Abstellräumen versuchen sie, auf dem mit Decken ausgelegten, kalten Betonboden zu schlafen. Während sie anfangs noch viele Männer, Frauen und Kinder aus den 90 Wohnungen über ihnen sehen, werden es über die Tage immer weniger. Nur noch etwa zehn Nachbarn sind geblieben und harren regelmäßig mit ihnen auf mitgebrachten Sitzmöbeln im Keller aus. Am zweiten Tag nach Kriegsbeginn erreicht Matthias die Nachricht, dass Polina Vorwehen bekommen hat und in die staatliche Klinik Nummer 6 gebracht wurde. Die private Leleka-Klinik, in der die Geburt eigentlich stattfinden sollte, sei laut Sergey nicht mehr zu erreichen. Viele Straßen seien gesperrt und der umkämpfte Flughafen Hostomel im Nordosten Kiews nur 15 Kilometer von der Klinik entfernt. Russische Einheiten haben hier bei Angriffen das weltweit größte Frachtflugzeug, die Antonow AN-225 "Mriya", zerstört. Zu gefährlich also, um die Geburt wie geplant stattfinden zu lassen.

Am dritten Tag des Krieges beschließen Matthias und Julia, sich aus der Wohnung zu wagen. Sie wollen Windeln, Babynahrung und Lebensmittel besorgen. Stundenlang klappern sie die Läden ab. Doch viele sind geschlossen oder haben nur noch wenige Lebensmittel in den Regalen. Auf ihrem Weg sieht das Paar, wie Einwohner in ihren Vorgärten Schützengräben ausheben, Straßensperren aus Sandsäcken bauen und ihre Soldaten mit Lebensmitteln versorgen. Zufällig kommt das Paar an einem Kontrollpunkt der ukrainischen Armee vorbei. Matthias beobachtet, wie Soldaten vier russische Männer in zivil festnehmen. Waffen, Munition und Schutzwesten, die im unauffälligen weißen Auto sichergestellt wurden, liegen ausgebreitet auf dem Boden. Matthias wünscht sich, die Soldaten würden die Männer an Ort und Stelle erschießen – zur Abschreckung. "Man wird hart zu sich selbst und anderen. Ich weiß, jeder tote Soldat, egal aus welchem Land, egal für welche Partei er kämpft, hat eine Mutter, Frau, Freundin oder Schwester, die um ihn weint. Trotzdem freue ich mich in diesen Tagen über Videos von brennenden russischen Panzern. Diese Emotionen und in mir aufsteigende Wut auf alles Russische machen mir Angst. Was passiert mit uns?", schreibt Matthias.

In den folgenden Tagen flüchten Matthias und Julia seltener in den Keller. Doch nicht etwa, weil die Gefahr gebannt sei. Sie haben sich schlicht an die Explosionen, den Gefechtslärm und das Sirenengeheul gewöhnt. Die Angst und der Lärm machen das Paar mürbe. Da wollen sie nicht auch noch auf dem kalten Kellerboden schlafen, sondern lieber in ihren bequemen Betten. "Durch die ständige Schießerei der vergangenen Tage ist unser Gehör sensibel. Wir zucken bereits zusammen, sofern nur irgendwo eine Tür laut zuschlägt oder ein Kugelschreiber auf den Boden fällt", schreibt Matthias.

Ukraine-Krieg: Paar heiratet im Tarnanzug an der Front
Ukraine-Krieg: Paar heiratet im Tarnanzug an der Front
Ukrainisches Pärchen gibt sich Ja-Wort an der Front – Klitschko als Gast dabei

Sehen Sie im Video: Ukrainisches Paar lässt sich mitten im Krieg trauen – Klitschko als Gast dabei.

Für ihr Kind verschieben sie die Flucht aus der Ukraine

Die Zeit in ihrer Wohnung verbringen sie neben alltäglichen Dingen wie Wäsche waschen vor allem mit dem Verfolgen des Livestreams des englischen Senders BBC. Hier erfährt Matthias, wo die russische Front um Kiew verläuft. Mit militärischen Dingen kennt Matthias sich aus. Er hat vor etwa 20 Jahren seinen zehnmonatigen Wehrdienst geleistet und liest regelmäßig militärhistorische Bücher. Auf einer Karte von Kiew und Umgebung zeichnet er den Frontverlauf ein und bespricht mit Sergey mögliche Routen. Wie kommen sie zum Krankenhaus im Osten der Stadt? Wie gelangen sie zu Sergey, bei dem Polinas Kinder sind? Und wie kommen sie aus der Stadt raus? Gemeinsam mit ihrem Sohn, Polina und ihren Kindern wollen sie die Stadt in Richtung Polen verlassen. Doch Matthias und Julia wollen unbedingt auf die Geburt ihres Kindes warten. Es soll schließlich nichts schiefgehen. Im Notfall soll medizinisches Personal eingreifen können. Wenn sie jetzt mit der schwangeren Polina fliehen würden, bestünde das Risiko, dass der Kleine in der Nacht irgendwo am Straßenrand zur Welt kommt. Ohne Beleuchtung. Ohne medizinische Hilfe. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Das darf nicht passieren. Dafür hat das Paar zu lang auf seinen Nachwuchs gewartet. Für ihr Kind verharren sie auch noch weitere Tage im Kriegsgebiet.

Die Tage vergehen. Explosionen und Sirenengeheul bleiben. Es ist Freitagabend, bereits seit über eine Woche leben Matthias und Julia im Krieg. Matthias schreibt: "Schon wieder Alarm, diese verfluchten Russen! Langsam habe ich die Faxen dicke. Diese durchdringenden Sirenen belasten mich psychologisch stärker als die Detonationen. Die Explosionen sind einfach da, kaum hat man sie wahrgenommen sind sie verklungen, aber Sirenen kündigen das Unheil an. Warum muss ausgerechnet unser Kind unter solchen Umständen geboren werden? Schnuffelchen, wann kommst du denn endlich? Mama und Papa müssen hier weg, schnell, ganz schnell!"

Am nächsten Tag telefoniert Julia mit ihrer geflohenen Vermieterin. Sie erzählt ihnen, dass viele kostenlos mit dem Zug aus der Stadt fliehen. Sie berichtet jedoch auch von den chaotischen Zuständen an den Gleisen. "Menschenmassen in Panik verhalten sich wie Tiere", schreibt Matthias. Dieser Situation möchte er sein Kind nicht aussetzen. Dann um 14:43 Uhr die erlösende Telegram-Nachricht von Polina auf englisch: "Liebe Julia und Matthias! Ich gratuliere euch zu der Tatsache, dass ihr jetzt Mutter und Vater seid." Nach einem kurzen Moment der Fassungslosigkeit rufen die beiden ihre Eltern an und teilen die frohe Botschaft mit. Am nächsten Tag soll es dann endlich losgehen. Gemeinsam mit ihrem Sohn werden Julia und Matthias als Familie nach Deutschland zurückkehren.

*Die Namen wurden geändert. Das Paar möchte zum Schutz des Kindes anonym bleiben. Die vollständigen Namen sind der Redaktion bekannt.

PRODUKTE & TIPPS

Kaufkosmos