TV-Debatte bei "Anne Will" Europas Asylpolitik auf dem Prüfstand: "Wir schaffen das" gilt heute nicht mehr

  • von Andrea Zschocher
Bei Anne Will zu Gast: Ruud Koopmanns (r.), Franziska Grillmeier, Jens Spahn, Omid Nouripour und Saskia Esken.
Bei Anne Will zu Gast: Ruud Koopmanns (r.), Franziska Grillmeier, Jens Spahn, Omid Nouripour und Saskia Esken.
© NDR/Wolfgang Borrs
Bei "Anne Will" wurde die neue Asylpolitik Europas diskutiert. "Wir schaffen das", die Aussage Angela Merkels von 2015, scheint heute keinen Bestand mehr zu haben.

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Seit Angela Merkels Ausspruch "Wir schaffen das" 2015 hat sich bei der europäischen Asylpolitik wenig getan. Diese Woche nun kam Bewegung in die Sache. Deswegen wollte Anne Will von ihren Gästen wissen: "Härtere Regeln, schnellere Verfahren – Was ändert Europas neue Asylpolitik?"  

Zu Gast bei "Anne Will" waren:

  • Saskia Esken (SPD), Parteivorsitzende
  • Franziska Grillmeier, Journalistin
  • Omid Nouripour (Bündnis 90/Die Grünen), Parteivorsitzender
  • Jens Spahn (CDU), Präsidiumsmitglied, stellv. Fraktionsvorsitzender im Bundestag
  • Ruud Koopmans, Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität

Nancy Faeser verkündete am Donnerstag einen "historischen Erfolg", als sie über die neue EU-Migrationspolitik sprach.

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Ob sie sich dafür nun feiern ließ oder lediglich darüber informierte, darüber stritten Saskia Esken, Omid Nouripour und Jens Spahn genauso leidenschaftlich, wie um die Frage, ob es denn neue Kontingente für Geflüchtete, Obergrenzen für die Aufnahme und Nachjustierungen beim Asylrecht braucht.

Erster Meilenstein zum Anknüpfen

Für Omid Nouripour ist das aktuelle Ergebnis der EU-Verhandlungen nur ein erster Meilenstein, es sei "kein historischer Erfolg", mehr so ein Fuß in der Tür für weitere Verhandlungen. Trotzdem sei er froh, dass es diese Einigung gibt, denn sie sei die Grundlage für weitere Verhandlungen. "Natürlich wollen wir das verbessern", gab der Parteivorsitzende der Grünen an und versuchte auf die Weise, die doch recht weit auseinanderdriftenden Meinungen innerhalb der eigenen Partei zusammenzuführen.

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Auch für Jens Spahn ist das Ergebnis ein "wichtiger Schritt auf europäischer Ebene", aber es sei nicht weitreichend genug. Seiner Auffassung nach würde die "irreguläre Migration" damit nicht bekämpft, auf Nachfrage Anne Wills erklärte er, dass für ihn alle, die "ohne Kontrolle und Ordnung" nach Deutschland flüchten, diese Form der Migration betreiben würden. Saskia Esken sieht in der neuen EU-Migrationspolitik einen großen "Schritt, der bisher nicht gelungen ist", die neuen Regelungen würden "Verfahren mit Mindeststandards" ermöglichen.

Die Nicht-Möglichkeit weiter in die EU einzureisen

Genau diese Mindeststandards sieht die Journalistin Franziska Grillmeier auf dem Prüfstand. Für sie seien diese fern von der Realität in der momentan viele Geflüchtete leben. Teilweise herrschen in den Lagern gefängnisähnliche Zustände, teilweise mit ungeahndeten Rechtsbrüchen und keinem Zugang zu medizinischer Versorgung.

Jens Spahn schnitt Grillmeier das Wort ab, den Begriff der Haft fände er "echt schwierig". Seiner Meinung nach könnten die Geflüchteten ja "zurückgehen", es ginge nur um die "Nicht-Möglichkeit weiter in die EU einzureisen". Aber wohin genau sollen die Geflüchteten zurückkehren? Auch Grillmeier ließ diese Frage keine Ruhe, sie erklärte, dass Länder wie beispielsweise die Türkei keine Menschen aufnehmen würden, die aus Griechenland zurückgeschickt werden. Die Menschen würden in diesen Lagern leben, weil nichts anderes möglich ist.

Zahl der Geflüchteten muss reduziert werden

Der Migrationsforscher Ruud Koopmans gab der Journalistin recht und wies darauf hin, dass ohne gültige Abkommen mit den Herkunftsstaaten oder Drittländern über die Rücknahme von geflüchteten Menschen, keine neue Migrationspolitik möglich sei. "Es wird uns nicht gelingen, wenn es nicht gelingt die Zahl [der Flüchtenden] deutlich zu reduzieren", so Koopmans. Das Ziel muss es sein, das Sterben der Menschen auf den Fluchtrouten zu verhindern.

Dass viele Menschen auf der Flucht sterben, darauf wiesen sowohl der Migrationsforscher als auch die Journalistin mehrfach hin und das waren die wenigen Minuten, in denen einem beim Zuschauen wieder in Erinnerung gerufen wurde, dass wir eben hier von Menschen sprechen, die sich aus ganz unterschiedlichen Gründen auf den Weg nach Europa machen.

Es wollen nicht alle von ihnen, daran erinnerte Saskia Esken, nach Deutschland. Von den 100 Millionen die aktuell auf der Flucht seien, würde die überwiegende Mehrheit in angrenzende Staaten des Heimatlandes fliehen, nicht nach Deutschland. Es sei nicht so, dass die ganze Menschheit in die BRD flieht. Und doch gewann man bei "Anne Will" den Eindruck, dass genau das um jeden Preis verhindert werden muss.

Die Grenze des Machbaren

Jens Spahn wollte wissen, ob es denn eine "gemeinsame Grenze davon, was machbar ist", gibt, eine "Grenze dessen, was gut ist", ob darüber ein Verständnis existieren würde. Der oben in Erinnerung gerufene Satz von Angela Merkel, das "wir schaffen das", er gilt schon lange nicht mehr, auch wenn Omid Nouripour daran erinnerte, dass das Asylrecht nach wie vor keine Obergrenze kenne und das richtig sei. Spahn argumentierte mit überfüllten Kitas und Schulen, Wohnungsknappheit und mangelnden Jobangeboten. Gleichzeitig ist die Zuwanderung für Fachkräfte sehr gewünscht. Natürlich ist Asyl- und Migrationspolitik hochkomplex und eine Talkrunde ändert gar nichts. Aber eine Stunde dabei zuzusehen, wie über das Leben vieler Menschen verhandelt wird, wie diese in willkommen und unwillkommen eingestuft werden, das kann einen nicht kaltlassen.

Humane Politik für inhumane Praktiken

Die Journalistin Grillmeier versuchte auch mehrfach auf die Zustände der Geflüchteten aufmerksam zu machen. Es gäbe, so Franziska Grillmeier, einen "Trend, humane Politik für inhumane Praktiken" zu machen. Sie hatte vor Ort in Niger recherchiert. Das Land hat, ähnlich wie es jetzt für Tunesien anvisiert ist, ein Abkommen mit Deutschland, dass Geflüchtete auf ihrem Weg nach Europa hier stranden sollen. Das tun viele auch und sterben dann hier, in der Wüste, wo ihre sterblichen Überreste nicht mehr gefunden werden. "Die Wege sind sehr viel tödlicher geworden", auch weil auf dem Papier etwas entschieden wird, was vor Ort nicht umgesetzt werden kann.

"Tunesien ist das Wartezimmer für die EU"

Migrationsforscher Koopmans sprach sich für die Idee der neuen EU-Migrationspolitik aus, dass die Länder entscheiden können, Geflüchtete nach einem Verfahren in Dritt- oder auch Transitländer wie beispielsweise Tunesien abzuschieben. "Tunesien ist das Wartezimmer für die EU", so Koopmans, man müsse Anreize wegnehmen, dass die Menschen sich überhaupt auf den Weg machen. Und man müsse sich von dem Gedanken verabschieden, eine "rein europäische" Lösung zu finden, die "gibt es nicht".

Der Soziologe sprach sich dafür aus, Flüchtlingskontingente für bestimmte Länder zu erhöhen und gleichzeitig die "irreguläre Zuwanderung" zu unterbinden. Nur dann wäre eine "viel bessere Welt der Flüchtlingspolitik" möglich. Neben monetären Anreizen für Tunesien sei es auch denkbar, Arbeits- und Student*innenvisa für Tunesien zu vergeben, wenn diese kooperativ und im Einklang mit den Genfer Konventionen Geflüchtete nach der Abschiebung wieder aufnehmen.

Weitere Themenpunkte

  • Feministische Migration: Jens Spahn wies darauf hin, dass im Moment das "Gesetz des Stärkeren" gelten würde und deswegen vor allem junge Männer nach Europa fliehen würden. Er wünsche sich eine feministische Migration.
  • Geflüchtete Kinder und Familien: Die aktuelle EU-Migrationspolitik sieht vor, dass auch Familien und Kinder in Lagern untergebracht werden sollen, wo sie auf ihre Rückführung in sicherere Herkunfts- oder Transitländer warten müssen. Die Grünen wollten diesen Passus nicht mittragen, Omid Nouripour verteidigte die Zustimmung dazu nun damit, dass ja Gespräche zu diesem Thema geführt werden können. "Natürlich wollen wir das verbessern", sicherte er zu.

Migration ist, ohne Frage, ein hochkomplexes Thema, das das Wissen von Expert*innen benötigt. Aber es kann nicht alles am Schreibtisch entschieden werden, es ist durchaus wichtig auch vor Ort zu schauen, welche Auswirkungen Gesetze, die von Entscheider*innen in gesicherten Häusern mit allem Komfort getroffen werden, auf Menschen weltweit haben.

Die Journalistin Franziska Grillmeier schien als Einzige der Runde vor Ort recherchiert zu haben, hatte mit Geflüchteten über ihre Lebensbedingungen gesprochen. Das ist nicht für alle Politiker*innen möglich. Aber es sollte im Bereich des Machbaren sein, nicht nur von Kontingenten und Zahlen und guten und weniger guten Geflüchteten zu reden, sondern die Menschlichkeit bei all den Entscheidungen nicht vollkommen außer Acht zu lassen. Insofern war der Talk bei "Anne Will" auch eher eine mahnende Veranstaltung, bei all der gebotenen Sachlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren, mit welchen Privilegien wir hier in Deutschland leben. 

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