Es ist schon seltsam, wenn man heute, nur dreißig Jahre später liest, hört und sieht, wie unzufrieden die Menschen im Osten sind. Wie unglücklich in Thüringen, wie wütend in Sachsen. Denn damals, als sich die Grenzen und Tore in den Westen öffneten, konnte es für die DDR-Bürger kein größeres Glück geben als - die Freiheit. Der 9. November 1989 war das größte Geschenk, das die Geschichte den Deutschen im Osten machen konnte. Es war die Nacht des Aufbruchs und der Hoffnung und der ersten Schritte in eine freie Welt. Westdeutsche und Ostdeutsche - wir lagen uns alle in den Armen. Ja, es ist seltsam, dass so viele vergessen haben, wie glücklich wir damals waren.
Natürlich habe ich sofort „Ja!“ gesagt, als meine Chefin fragte, ob ich nach Ostberlin fliegen wolle. In der Redaktionskonferenz des stern hatten die Ressortleiter um Chefredakteur Michael Jürgs am Morgen einen Großeinsatz beschlossen. Wer konnte, sollte sofort in die DDR reisen. Berlin, Dresden, Magdeburg - ganz egal, Hauptsache die Task Forces wären vor Ort, wenn passieren würde, was sich zu diesem Zeitpunkt noch niemand vorstellen konnte.
Es war aufregend. Es war Revolution
Der Fotograf Dirk Eisermann und ich sollten beobachten, was sich in den folgenden Stunden und Tagen in der ostdeutschen Hauptstadt ereignete, in den Tagen des deutschen Herbstwunders. Es war aufregend. Es war Revolution. Es war meine allererste Reise in die DDR.
Eisermann war bereits vor Tagen mit dem Auto vorausgefahren und hatte uns Zimmer im „Palast“-Hotel besorgt, einem blind verspiegelten Klotzbau im Ostzonen-Schick, der neben dem Berliner Dom und gegenüber des Palast der Republik lag. Heute heißt das Palast-Hotel „Radisson Plaza“ und da, wo Honeckers Palast der Republik lag, steht heute das Humboldt-Forum.
Ich flog also mit einigen Kollegen von Hamburg nach Berlin, es war die schnellste Verbindung, den ICE gab es noch nicht. Vom Flughafen aus ging es zum Grenzübergang Friedrichstraße, wo mich Eisermann mit einem eilig ausgestellten Journalistenvisum erwartete. Am frühen Abend kamen wir dann im Hotel an. Ich wollte nur schnell noch unter die Dusche. Ich war durchgefroren – nieselnder November eben. Wahrscheinlich ist Angela Merkel damals aus demselben Grund mit ihren Freundinnen in eine Sauna gegangen – und nicht auf die Straße, zum Brandenburger Tor, oder an irgendeinen Checkpoint der Stadt.

Ich hatte den Wasserhahn gerade aufgedreht, als der Kollege plötzlich gegen die Tür trommelte. Es war kurz nach sieben. „Die machen die Grenze auf, los komm‘“, rief er. Ich dachte: Jetzt spinnt er. Aber er hatte es im Fernsehen gehört und gesehen. Günter Schabowski liest vom Blatt: "Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich". Seit 19.04 Uhr meldete die Nachrichtenagentur Associated Press, die Ausreise für DDR-Bürger sei nun unverzüglich möglich. Wir liefen sofort zur Friedrichstraße. Ein paar Dutzend Leute redeten dort bereits auf die Grenzbeamten ein. Sie wollten rüber, es sei erlaubt. Aber die Uniformierten rührten sich nicht, sie hatten keine Ahnung, sie wirkten nervös. Eisermann fotografierte los, ich sprach mit Männern und Frauen, die vom Abendbrottisch aufgebrochen waren, in dünnen Jacken, und nur mit ihrem Ausweis in der Tasche. Familien kamen angerollt mit schlafenden Kindern im Kinderwagen, junge Leute brachten bereits Sektflaschen mit. Alte Leute hatten Tränen in den Augen.

Wir zogen weiter zum Grenzübergang Invalidenstraße. Es war dunkel, der bittere Rauch aus den Kohleöfen hockte tief über der Stadt. Unterwegs trafen wir stern-Kollegen, die zur Bornholmer Straße wollten. Wir überlegten kurz, ob und wie wir die Hamburger Redaktion informieren sollten. „Das könnte vielleicht eine Titelgeschichte werden“, meinte einer der Kollegen.
Nur zur Erinnerung: Handys gab es 1989 noch nicht. Es gab Satelliten-Telefone, groß wie Rollkoffer und schwer wie ein Gebinde Briketts. Das Wlan war noch nicht erfunden, das Blackberry auch nicht. Man muss das erwähnen, weil es uns im Nachgang oft unvorstellbar erscheint, wie rasant sich die Ereignisse in jener Nacht auch ohne Internet und Handykamera entwickeln und verbreiten konnten.

Wir Straßen-Reporter waren so gesehen ahnungsloser als jeder Tischredakteur in Hamburg. Denn der wurde ja vom Agenturmaterial und vom Fernsehen umfassend auf dem Laufenden gehalten, während wir immer nur einen winzigen Teil des Puzzles sahen. Im Grunde war uns allen wohl das Große, das Ausmaß dieses Weltereignisses, das sich in jenem Moment live vor unseren Augen abspielte, noch nicht klar. Wir waren Teil der Geschichte und wussten es nicht. Wir spürten, aber wir glaubten nicht. Alles war in dieser Nacht. Und alles war möglich. Das Leben und das Hoffen, die Freiheit und der Tod. Nach unserer Beratung beschlossen wir jedenfalls, uns aufzuteilen und einfach weiterzumachen. Es würde zu lange dauern, über die DDR-Telefone „ein Amt“ nach Hamburg zu kriegen. Those Were the Days, My Friend ...
Wir alle waren im Fieberrausch
Aus den Nebenstraßen wimmelten nun Menschengruppen zum Brandenburger Tor. Dorthin, wo die Grenzsoldaten mit unveränderter Miene hinter ihren Absperrgittern Wache schoben, das Gewehr schräg vor der Brust. Auf der anderen Seite sah man durch die beiden Spalte links und rechts im Tor, dass viele Westberliner auf der Straße des 17. Juni unterwegs waren. Die ersten saßen bereits auf der Mauer. Es war ein nasskalter November, aber wir alle waren im Fieberrausch.
Schon als wir in die Invalidenstraße einbogen, hörten wir, wie sie „Macht das Tor auf“ sangen. Tausende waren inzwischen auf den Beinen. Hanns Joachim Friedrichs hatte in den „Tagesthemen“ gesagt: „Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“ Und die, die nun in ihren Trabis auf den Grenzübergang zurollten, hatten das im Westfernsehen gehört. Der Tumult war unvorstellbar. Es war weit nach elf, und immer noch hatte sich das Gitter nicht für alle geöffnet. Nur dann und wann durfte jemand passieren. Viele waren aggressiv, manche weinten. Dann endlich drehte ein Grenzer den Schlüssel. Die Leute schrien, als die Gittertore sich endlich wie Fittiche auftaten. Sie hupten, schwenkten Bierflaschen, sie lachten und weinten, und alles durcheinander. Dauernd umarmte mich jemand, umarmte jemand den Fotografen. Auch wir lachten und weinten durcheinander. Es war ein Gefühlschaos und auch das totale Chaos in dieser engen Straße. Wir standen, staunten und fotografierten.

Wahnsinn, dachte ich: Ich bin zum ersten Mal im Leben in der DDR – und die machen gleich die Mauer auf!
Auf einmal kamen mir die Grenzbeamten in den Blick. Männer, die mit fassungslosem Gesichtsausdruck beobachteten, was vor ihren Augen passierte. „Alles dahin“, schienen sie zu denken, „alles dahin.“ Ich muss über all dem Glück jener Nacht bis heute immer auch an diese leeren Gesichter denken. An junge Polizisten, die in jenem Mitternachtsmoment wohl ahnten, dass alles, was sie in ihrem Leben bis dahin je für gut und richtig gehalten hatten, nun vorbei war. Sie taten mir leid. Nicht eine Minute lang hatten wir Angst gehabt, dass sie auf die Menge schießen würden.
Fast alle stern-Kollegen machten die Nacht durch. Zwei von uns hatten sich in der Früh nach Tegel durchgeschlagen und waren mit einem Privatflieger nach Hamburg geflogen, um aufzuschreiben, was wir erlebt hatten. Die anderen trafen sich um fünf im „Grand-Hotel“ und versuchten die Hamburger Redaktion telefonisch zu erreichen. Irgendwann schreckte am anderen Ende einer aus dem Schlaf: „Regt euch ab, Leute“, sagte die Stimme, „erst mal sehen, ob das am nächsten Donnerstag überhaupt noch eine Geschichte ist.“
Es war eine Geschichte! Und wir druckten Sonderhefte.