Christian Lindner tritt um 10.09 Uhr ans Rednerpult. Die Lebenshaltungskosten steigen tagtäglich, während die Konjunktur schwächelt, erklärt der Bundesfinanzminister. "Wir sind in einer Situation, in der gehandelt werden muss", sagt er. Also handelt er, so will es Lindner an diesem Mittwoch verstanden wissen.
Mit einem "Inflationsausgleichsgesetz" soll der "schädlichen kalten Progression" der Kampf angesagt, eine "heimliche Steuererhöhung" verhindert und rund 48 Millionen Bürgerinnen und Bürger entlastet werden (mehr dazu sehen Sie hier). Der Vorschlag, das Versprechen, soll schleunigst Einzug ins Kabinett finden.
Lindner präsentiert die Pläne in seiner Funktion als Bundesfinanzminister. Allerdings dürfte der FDP-Vorsitzende auch nichts dagegen haben, wenn das Entlastungspaket auch den zunehmenden Kummer der Liberalen mildern würde: 7 Prozent in der Sonntagsfrage, lediglich 24 Prozent sind noch mit der Arbeit der FDP zufrieden – die Partei büßt in der Ampel-Koalition damit am meisten Zuspruch ein.
Dabei bleiben die Liberalen ihren Prinzipien treu, sie gehörten bei den Bundestagswahlen noch zu großen Gewinnern. Kein Tempolimit, kein Aufweichen der Schuldenbremse, keine Steuererhöhungen. Wenn es dann hin und wieder knirscht in der Ampel – etwa, weil man dem grünen Koalitionspartner bescheinigt, sich beim Thema Akw-Laufzeiten "ideologisch total verrannt" zu haben – dann offenbar aus gutem Grund. Man habe die Koalition schließlich nicht "aus automatischer inhaltlicher Nähe" gebildet, erklärte Lindner kürzlich, "sondern weil wir eine staatspolitische Verantwortung haben." Die FDP trage dafür Sorge, dass Deutschland "aus der Mitte" regiert werde und "nicht nach links" drifte.
Die Liberalen zeigen sich standhaft, oftmals unbeweglich. Sie wollen sich nicht verbiegen lassen. Aber vielleicht ist genau das ihr Problem.
Es läuft nicht für die FDP …
Denn während die FDP immer noch eisern an ihren Idealen festhält, haben die Grünen schon mehrmals mit ihnen gebrochen – und erfahren dafür breite Zustimmung.
In der Wählergunst haben sie als einzige Ampel-Partei im Vergleich zur Bundestagswahl zugelegt, trotz oder gerade weil sie alte Überzeugungen auf den Prüfstand gestellt haben. Nun wird die Aufrüstung der Bundeswehr unterstützt, der Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken akzeptiert, sogar beim urgrünen Anti-Atomkraft-Thema zeichnet sich Bewegung ab. Nicht selten werden diese Kehrtwenden von Außenministerin Annalena Baerbock oder Wirtschaftsminister Habeck formuliert, den zurzeit beliebtesten Kabinettsmitgliedern der Regierung.
"Schon nach einem halben Jahr haben sich die politischen Gewichte in der Koalition verschoben", sagt Politikwissenschaftler Thomas Jäger von der Universität Köln zum stern. "Die Grünen haben erheblich an Profil und Zustimmung gewonnen, die SPD ist abgetaucht und die FDP bewegt sich auf die 5-Prozent-Hürde zu."
Keine weiteren Fragen, außer: Warum?
Besonders alarmierend ist die Situation für die FDP, die eisern ihre Prinzipien hochhält, obwohl in Kriegs- und Krisenzeiten offenbar mehr Pragmatismus bei den Wählerinnen und Wählern goutiert wird. Diese unter einen Hut zu bekommen, muss allerdings kein Widerspruch sein.
"Krieg und Klimakrise: Es sind existenzielle Zeiten für Freiheitsfragen", meint etwa die Autorin und Journalistin Carolin Emcke. Doch: "Wenn man sieht, mit welch orthodoxer Verklemmung die Partei (die FDP, Anm. d. Red.) an ihrem Widerstand gegen ein Tempolimit festhält oder wie die Schuldenbremse zunehmend irrational sakralisiert wird", schreibt sie in der "Süddeutschen Zeitung", "dann drängt sich Zweifel auf, wie unverhandelbar, wie existenziell die Sehnsucht nach Freiheit der Liberalen wirklich ausgeprägt ist."
Dass die FDP in der Wählergunst verliert, hat für Politikwissenschaftler Jäger jedoch andere Gründe. Trotz vier wichtiger Ressorts – Finanzen, Bildung, Justiz und Verkehr –, seien die Amtsinhaber neben Lindner praktisch unbekannt. Obendrein seien sie als Team nicht erkennbar und würden mit keiner begehrten Reform aufschlagen. "Aber auch was sie tun, legen sie ungünstig an", so Jäger.
Beispiel: das 9-Euro-Ticket, das sich in Deutschland großer Beliebtheit erfreut – und von der FDP hätte weit stärker als PR-Maßnahme genutzt werden können. "Es gehört zu den Grundsätzen kluger Politik, dass in Krisen zuerst die drastischen Maßnahmen kommen, die dann – zur Steigerung von Zustimmung und Legitimation – sukzessive aufgelöst werden", so der Politikwissenschaftler. "Das Ticket aber einzuführen und dann die erwartbaren Forderungen nach seiner Verlängerung als 'Gratismentalität' zu bezeichnen, ist das Gegenteil von professionellem Vorgehen."
Angesichts der anhaltenden Debatte hatte sich Finanzminister Lindner zuletzt gegen eine Finanzierung aus dem Bundeshaushalt für eine Nachfolgelösung des 9-Euro-Tickets ausgesprochen. Dafür stünden in der Finanzplanung keinerlei Mittel zur Verfügung. Der Minister sagte, er sei von einer "Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen" auch im Öffentlichen Nahverkehr nicht überzeugt (mehr dazu lesen Sie hier). Die Formulierung wurde von vielen Seiten scharf kritisiert.
Darüber hinaus fällt das öffentliche Urteil über die von der FDP geführten Ressorts eher negativ aus, so der Politikwissenschaftler. So verstricke sich etwa die Justizpolitik in umstrittenen Coronamaßnahmen, während die Bildungspolitik "nicht sehr publikumsstark" auftrete.
… wenn sie nicht belegen kann, warum sie in der Regierung ist
Wie kommt die FDP aus dieser Lage heraus? "Sie muss belegen, warum sie in der Regierung ist", so Politikwissenschaftler Jäger. Wenn diese Frage auf der Straße nicht beantwortet werden könne, mache das Personal etwas falsch. "Es ist ja kein Zufall, dass die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses (Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anm. d. Red.) für viele Wochen das Gesicht der FDP war, weil sie eine einfache Botschaft verkündete." Gemeint: Ihre unablässige Forderung nach weitreichenderer Unterstützung für die Ukraine.
Darin liege aktuell die Stärke der Grünen: Sichtbarkeit und Kommunikationsstringenz ihrer beiden Spitzen Habeck und Baerbock, die sich zudem klar von der Vorgängerregierung und deren "falschen Politik" abgrenzen würden. Das falle der SPD, die Teil der Großen Koalition war, freilich schwerer. "Die Grünen haben klare Programmaussagen und können diese sogar damit verbinden, dass sie erst in Zukunft realisiert werden – erneuerbare Energien und resiliente Demokratie", so Jäger.
Wie nachhaltig und belastbar die Versprechen sind, muss sich noch zeigen. Auch das "Inflationsausgleichsgesetz" von Finanzminister Lindner wird noch für Diskussionen – zumindest das ist gewiss: Grüne und SPD äußern bereits Kritik an den Plänen.