Gas-Krise "Wladimir Putin nutzt sein Gas als Waffe für einen Frontalangriff auf die westliche Demokratie"

Russlands Präsident Wladimir Putin
Russlands Präsident Wladimir Putin
© Alexey MAISHEV / SPUTNIK / AFP
Auch wenn jetzt wieder Gas durch Nord Stream 1 nach Europa fließt, die Gas-Krise ist in Europa nicht abgewendet. So kommentieren die deutschen Zeitungen die Probleme.

Nach der Wartung von Nord Stream 1 ist am Donnerstagmorgen die Gaslieferung durch die deutsch-russische Gaspipeline wieder angelaufen. Es fließe wieder Gas, sagte ein Sprecher der Nord Stream AG der Deutschen Presse-Agentur. Bis die volle Transportleistung erreicht sei, werde es einige Zeit dauern.

Zuvor war befürchtet worden, Moskau könne nach der zehntägigen Wartung den Gashahn komplett zulassen und so die Energiekrise weiter verschärfen. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine hatte der Westen Sanktionen gegen Russland verhängt. Russland hatte wiederum Gaslieferungen in europäische Länder ganz oder teilweise eingestellt.

EU-Plan sieht Gas-Sparen vor

Im Fall eines Gasnotstands sollen EU-Staaten nach dem Willen der Europäischen Kommission zum Gassparen gezwungen werden können. Konkret schlug die Brüsseler Behörde am Mittwoch vor, dass verbindliche Reduktionsziele möglich sein sollen, wenn nicht genug gespart wird. Freiwillig sollen die EU-Länder alles dafür tun, ihren Verbrauch in den kommenden Monaten um 15 Prozent im Vergleich zum Schnitt der vorangegangenen fünf Jahre zu verringern.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält nach eigener Aussage einen kompletten Lieferstopp von Gas aus Russland in die Europäische Union für wahrscheinlich. "Russland erpresst uns, Russland setzt Energie als Waffe ein."

So kommentieren die deutschen Zeitungen die aktuelle Gas-Krise:

"Neue Osnabrücker Zeitung": "Die EU-Kommission würde sich mit einem Zwang zum Gassparen einfach über die nationalen Regierungen hinwegsetzen. Die Brüsseler Behörde als Supermacht in Europa? Der europäische Plan ist aber noch aus einem anderen Grund fragwürdig. In allen Krisen der jüngsten Zeit hat das Krisen-Management der EU-Kommission ganz überwiegend nicht funktioniert. Man denke nur an die fehlgeschlagene gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen und Schutzmasken in der Corona-Pandemie oder das bis heute nicht gelöste Problem der Flüchtlingsverteilung. Glücklicherweise müssen die EU-Staaten den Vorschlägen der Kommission zustimmen – und da ist nicht zu erwarten, dass sie das tun werden. In jedem Fall ist der neue Gas-Notfallplan einmal mehr keine Sternstunde der EU-Politik."

"Allgemeine Zeitung" (Mainz): "Das bange Schauen nach Moskau, was nun passieren wird, ist ein weiterer Beleg für die fatale Abhängigkeit des Westens von russischem Gas. Putin weiß das zu nutzen, und er tut es eiskalt. Wie ein Dealer wirft er dem Junkie ein bisschen Stoff vor die Füße, nicht ohne zu drohen, bei mangelndem Wohlverhalten sei es das letzte Päckchen gewesen. So hält man Drogenabhängige gefügig. Wahr ist aber auch: Jeder Kubikmeter Gas, der nun vielleicht aus Russland wieder zu uns strömt, kann ein bisschen dabei helfen, sich für alle winterlichen Szenarien zu wappnen, die Speicher zu füllen."

"Münchner Merkur": "Selbst wenn Deutschland Putins Drängen nachgäbe und die Pipeline Nord Stream II jetzt öffnen würde: Im Zweifel fällt dem Kremlchef immer ein neuer Vorwand ein, um am Gashahn zu drehen. Putin will, wie auf den Schlachtfeldern der Ukraine, auch im Gas-Krieg die Eskalationsdominanz behalten. Ein verlässlicher Partner, wie mancher unverdrossen behauptet, war er noch nie. Europa wäre verrückt, sich auf sein Katz-und-Maus-Spiel einzulassen. Die EU muss sich mit voller Kraft für den Gas-Notfall rüsten. Auch die Berliner Ampel muss noch viele Hausaufgaben erledigen, Stichwort Atom und Biogas. Und alle müssen im Stillen hoffen, dass es in Moskau noch einen Rest an ökonomischer Vernunft gibt. Niemand zahlt so fürstlich für russisches Gas wie Europa. Das marode, tief in der Rezession versinkende Russland kann auf diese Einnahmen auf Dauer nur schwer verzichten. Den Gaspreis mit immer neuen Spielchen hochzutreiben, ist eine Sache. Den Hahn zuzudrehen eine andere. Denn dann ist das Spiel aus. Auch für Putin."

"Frankfurter Neuen Presse": "Liefert Russland nun wieder Gas, oder nicht? An diesem Donnerstag werden wir es erfahren. Der Diktator im Kreml lässt uns zappeln. Er spielt mit der Angst der Deutschen. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, wie lange die Solidarität mit der Ukraine hält, wenn es in unseren Räumen kälter und auf den Konten leerer wird. Doch auch den russischen Soldaten und der dortigen Bevölkerung steht ein harter Winter bevor. Und ob sich Russland wirklich die Konsequenz leisten kann, auf die Gas-Milliarden aus Europa zu verzichten, ist zweifelhaft. Für uns lohnt es sich, standhaft zu bleiben und mit Hochdruck an einer Energieversorgung zu arbeiten, die es uns ermöglicht, aus Putins Spiel auszusteigen."

"Die Glocke" (Oelde): "Russland kündigt Lieferungen nach Deutschland an, gleichzeitig raunt Putin von einer möglichen Drosselung der Liefermenge durch die Leitung Nord Stream 1 und verweist wieder einmal auf die ungenutzte Pipeline Nord Stream 2. Diese Karten liegen auf dem russischen Tisch. Unklar ist, welche Putin noch auszuspielen gedenkt. Denn so sehr er an der Drohkulisse 'Wir können Europa das Gas abdrehen' baut, so sehr braucht Russland die Einnahmen aus dem Gasverkauf. Die westlichen Staaten setzen schon jetzt alles daran, den Verbrauch zu senken und anderswo Gas zu erwerben. Also muss Putin daran interessiert sein, so viel wie möglich nach Europa zu verkaufen, solange es dort nachgefragt wird und Russland schon wegen mangelnder Leitungskapazitäten keine anderen Abnehmer hat. Das sind zugleich die Karten, die die EU auf der Hand hat. Warum nicht Putin mal ein wenig zappeln lassen und andeuten, man brauche sein Gas gar nicht so dringend? Wäre das nicht schon deswegen angesagt, weil man nicht weiter die Kriegskasse des Aggressors füllen sollte?"

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"Stuttgarter Nachrichten": "Das Zauberwort heißt Solidarität. Wenn in einem Land das Gas knapp wird, soll die Gemeinschaft helfen. Das sieht in der Theorie der EU-Plan vor. Doch Ungarn hat bereits angekündigt, dass es ab August kein Gas mehr abgeben wird. Auch in Ländern wie Polen ist ein deutliches Murren zu vernehmen. Dort sind die Speicher prall gefüllt, weil die Regierung nie den Worten Moskaus getraut hat. Und nun soll man im Notfall ausgerechnet Gas nach Deutschland pumpen, das in den vergangenen Jahren mit lächelnder Überheblichkeit auf die zahlreichen Warnungen aus Warschau reagiert hat. Wladimir Putin nutzt sein Gas als Waffe für einen Frontalangriff auf die westliche Demokratie. Diese Attacke solidarisch abzuwehren wird die eigentliche Herausforderung im kommenden Winter."

"Ludwigsburger Kreiszeitung": "Es stehen viele sinnvolle Anregungen im nun von der Kommission vorgelegten Plan. Doch gleich in dreifacher Hinsicht hat die EU-Kommission ihren Plan aufs falsche Gleis gesetzt. Wenn alle Maßnahmen in ganz Europa bereits ab dem 1. August greifen sollen, hätte es längere Fristen benötigt, statt am 20. Juli etwas vorzuschlagen, was bereits am 26. Juli von den Regierungen im Ministerrat beraten und verfolgt werden soll. In die Rechte der 27 Mitgliedsländer eingreifen zu wollen, ohne konkret zu sagen, wie, wann und an welchen Stellen, dürfte bestenfalls vorgetäuschter Aktionismus sein. Zudem hätte die Kommission auch das Parlament beteiligen müssen, um die Zustimmungsbasis zu verbessern."

"Reutlinger General-Anzeiger": "Putin versucht mit immer neuen Spielchen, den Westen vor sich herzutreiben. Erst verlangt er die Bezahlung der Gaslieferungen in Rubel, dann erwirkt er die Rückgabe einer eigentlich von Sanktionen betroffenen Turbine, um Nord Stream 1 wieder in Betrieb zu nehmen. Nun bringt er sogar wieder die neue Pipeline Nord Stream 2 ins Spiel und lockt mit günstigeren Preisen. Jedes Entgegenkommen ist für Putin ein Beweis der Schwäche des Westens und wird innenpolitisch als Sieg gefeiert."

"Badische Zeitung" (Freiburg): "Wird das Gas nun wieder fließen? (…) Die widersprüchlichen Hinweise vom Mittwoch sollten vor allem Verwirrung stiften und Macht demonstrieren. (…) Ohne ein gemeinsames Regelwerk droht die EU im Ernstfall auseinanderdividiert und zerrieben zu werden. Solidarisch sein, Energie einsparen, Gas wo immer möglich ersetzen und bei alledem die Klimafolgen nicht außer Acht lassen – das sind vernünftige Leitsätze. Allein, ihre praktische Umsetzung wird die EU, wird vor allem das gassüchtige Deutschland bis an die Schmerzgrenze fordern. (…)"

"Hannoversche Allgemeine Zeitung": "Bei Putins Drohungen geht es höchstens vordergründig um technische Fragen wie die Lieferung einer in Kanada reparierten Turbine für die Pipeline. Sie sind in erster Linie ein weiterer Versuch, Deutschland und die EU zu erpressen: Steht ihr weiterhin fest an der Seite der Ukraine, dann wird der Winter kalt und teuer. Ein vollständiger Gaslieferstopp steht immer im Raum. Das sorgt in Deutschland zu Recht für große Nervosität. Doch die Drohungen des Moskauer Autokraten dürfen keineswegs zur Aufweichung der westlichen Sanktionen führen. Und sie dürfen Deutschland und die EU erst recht nicht davon abbringen, die Ukraine in ihrer Verteidigung gegen den völkerrechtswidrigen Angriff durch das russische Militär zu unterstützen – auch und gerade mit schweren Waffen."

"Rhein-Neckar-Zeitung" (Heidelberg): "Putin ist ein abgebrühter Spieler. Ob Kriege am Rande Georgiens oder in der Ukraine, ob Materialschlachten in Syrien, ob Geschäftliches – der Kreml-Herrscher hat Zeit und Nerven. Er kann die Szenarien von Aggression und Scheinrückzügen ellenlang dehnen. Und kein Oppositioneller, kein Journalist wird ihn je drängen oder argumentativ stellen. Dafür sorgt schon das repressive System. Den meisten Entscheidern in Europa wird nicht klar gewesen sein, auf welch perfides und zugleich zähes Spiel sie sich da in Folge des 24. Februars eingelassen haben. Sprüche wie "in der Ukraine wird unsere Freiheit verteidigt" kaschieren nur die Tatsache, dass Russland – erschreckenderweise mit Erfolg – dabei ist, eine neue Weltordnung auszutarieren. Die Antwort darauf sollte nicht lauten, künftig Gas bei anderen Diktatoren zu kaufen – sondern eine echte Energiewende. So wird das Risiko zur Chance."

DPA · AFP
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