SPD Abwärts, Genossen

Vorige Woche stand die SPD noch am Abgrund. Nun ist sie einen Schritt weiter. Parteichef Müntefering kann den freien Fall nicht stoppen, nach dem Wahldebakel verlieren die Genossen den Glauben an einen Sieg 2006.

Doch, es muss in der Politik so etwas geben wie Paralleluniversen. Eines davon ist an diesem Wahldesaster-Sonntag im 5. Stock des Berliner Willy-Brandt-Hauses zu besichtigen. Da stehen gut 100 junge Menschen, einige in modischen Nadelstreifenanzügen und mit glitzerndem Bauchnabelschmuck, die etwa so gut in die ergraute SPD passen wie Britney Spears und Robbie Williams in den Musikantenstadl. Und sie jubeln ihrem Parteivorsitzenden so frenetisch zu, als hätten sie gerade die absolute Mehrheit in Bayern erobert.

"Bedanke mich", sagt der Mann auf der Bühne und versucht den Beifall zu dämpfen. Franz Müntefering - ein Mann aus einer anderen Welt?

Für die Genossen auf jeden Fall. Hätte Gerhard Schröder da vorne gestanden, mutmaßt später ein Augenzeuge der surrealen Szenen aus den oberen Parteietagen, "hätten allenfalls ein paar geklatscht und die auch nur aus Pflichtgefühl".

Vielleicht ist das der viel beschworene Münte-Effekt: Die Partei hat gekriegt, was sie wollte - einen neuen Chef, den sie liebt -, aber beim Wähler bleibt das ohne jede Wirkung. Zumindest ohne positive.

Es war eine gnadenlose Abreibung

Das war keine Ohrfeige, die die Bürger der SPD am Sonntag verpasst haben - es war eine gnadenlose Abreibung. Nur noch neun Prozent aller Wahlberechtigten haben SPD gewählt - und dieser damit das schlechteste Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl beschert. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2002 hat die SPD fast drei Viertel ihrer Wähler verloren. Ein paar in der SPD-Zentrale haben das Signal klar verstanden: "Die wollen uns weghaben. Das war das Zeichen: Haut ab." Als eine "Protestwahl" gegen die Berliner Politik wertet auch der grandios gescheiterte Thüringer Spitzenkandidat Christoph Matschie sein mieses Ergebnis von 14,5 Prozent. Schon schreibt die "FAZ" von heraufziehender "Kanzlerdämmerung".

Gerhard Schröder hatte sich wohlweislich möglichst fern gehalten von dieser Wahl. Zwar pries sich seine Partei auf ihren Plakaten als "Friedensmacht" an - der Machthaber aber war darauf nicht zu sehen. Und statt an der Abschlusskundgebung in Braunschweig nahm der Kanzler lieber an den Trauerfeierlichkeiten für Ronald Reagan teil - obwohl das protokollarisch unnötig war; der Außenminister hätte es auch getan. Aber wo er schon mal im Lande weilte...

Kanzlerdämmerung? Anders als seine Partei blüht wenigstens ihr Ex-Chef auf. Seit er sich im Februar vom SPD-Vorsitz verabschiedet hat, gefällt Schröder sich in der Rolle des zumindest im Kollegenkreis anerkannten Weltenlenkers. Beim gemütlichen Grillabend unter Staatsmännern briet er vorigen Donnerstag nach dem G8-Gipfel am Strand von Sea Island versiert Hamburger und kam gerne dem Wunsch amerikanischer Gipfelhelfer nach, für gemeinsame Fotos zu posieren. "Wenn das alles deine Wähler wären, hättest du kein Problem", juxte ein Kabinettsmitglied.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Auch beim real existierenden Publikum daheim scheint der Außenkanzler durchaus anzukommen. Zumindest misst Forsa-Chef Manfred Güllner wieder steigende Sympathiewerte für Schröder seit dessen souveränen Auftritten bei den D-Day-Feiern in der Normandie und beim Gipfel in den USA. "Das sichert dir eine halbe Seite im Geschichtsbuch, da kannst du sicher sein", schwärmte NRW-Landeschef Harald Schartau ihn nach seiner Rückkehr aus Frankreich an.

Im Kanzler-Lager wertet man die "Operation Münte" trotz der verheerenden Wahlniederlagen denn auch als "vollen Erfolg. Müntefering nimmt den Druck von Schröder". Notorische Kanzlerkritiker wie die Landesvorsitzenden Andrea Ypsilanti (Hessen) und Heiko Maas (Saarland) rieben sich nun am neuen Chef.

"Der Fisch stinkt vom Kopf"

Es nutzt nur nichts, jedenfalls nicht der SPD. Zum einen sagen einige Mitglieder des Parteivorstands: "Der Fisch stinkt vom Kopf" - und meinen damit immer noch Schröder. Zum anderen stellt Demoskop Güllner fest, dass die Kluft zwischen dem Ansehen des Kanzlers und den Ergebnissen seiner Partei immer größer werde: "Er kann die SPD nicht mehr nach oben ziehen." Denn die sei in einer "fast existenziellen Krise", nachdem sie sich "über Jahrzehnte ruiniert" habe.

Für den Hoffnungsträger Müntefering war dieser Sonntag ein herber Rückschlag. Nach der SPD-Schlappe bei der Hamburg-Wahl im Februar hatte er noch auf Optimismus gemacht. "Am 13. Juni wäre ich enttäuschter, wenn man nichts sehen würde."

Jetzt sieht man in der Tat etwas. Nur: Behagen kann es Müntefering nicht. Der ganze Einsatz - bislang für die Katz. Er ist mit seiner Truppe ins Willy-Brandt-Haus eingefallen "wie die Rote Armee" (so ein SPD-Insider). Er hat seinen rhetorisch linkischen Generalsekretär Klaus Uwe Benneter um Verständnis für die "Agenda 2010" an der Basis tingeln lassen, was womöglich eher kontraproduktiv gewesen ist, hat selber 17 000 Mitglieder bei Vor-Ort-Terminen moralisch aufzurichten versucht, hat brav die brachliegende innerparteiliche Kommunikation mit den ehrpusseligen Funktionären beackert, hat Optimismus zur ersten Genossenpflicht erklärt ("Ab jetzt wird jedes halb leere Glas für halb voll erklärt"), hat ein wenig den Neben-Kanzler gegeben und per "Spiegel"-Interview mehr Disziplin verlangt von den sich mit immer tollkühneren Vorschlägen um den Rest von Reputation schwätzenden Ministern. Und nicht zuletzt hat er die SPD-Herzensthemen Ausbildungsplatzabgabe und Bürgerversicherung nach vorne gerückt.

Trotzdem fragt Andrea Nahles, jüngstes wie linkstes Mitglied im SPD-Präsidium und eigentlich Fan von Müntefering, inzwischen bang, wenn sie abends das Licht löscht: "Wie viel hinterlassen die uns Jüngeren überhaupt noch?"

Am Wahlabend steht SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel mit dem Rücken an der Wand im Willy-Brandt-Haus, verfolgt, manchmal "Mann, Mann, Mann" stöhnend, die Hochrechnungen auf einem TV-Monitor und versucht ansonsten, Gelassenheit zu demonstrieren: "Die Strecke bis 2006 ist dieselbe geblieben, sie ist jetzt bloß ein bisschen schärfer ausgeleuchtet."

Kann man so sagen. Zu besichtigen sind darauf vor allem Hindernisse, sehr große Hindernisse. Bei den Landtagswahlen im Saarland haben die Genossen im Herbst trotz des reaktivierten Links-Ausweichlers Oskar Lafontaine nichts zu gewinnen, in Brandenburg droht die Partei von Ministerpräsident Matthias Platzeck wie in Thüringen von der PDS überflügelt zu werden, in Schleswig-Holstein steht die rot-grüne Regierung von Heide Simonis im nächsten Februar auf der Kippe.

Deutschland, einig Merkel-Land könnte Wirklichkeit werden. Übertrieben? Bei der Europawahl erhielt die SPD nur in einem einzigen Bundesland eine Mehrheit - in Bremen. Bereits vor diesem Wahlsonntag hatten Kanzlervertraute über eine Notfallstrategie nachgedacht. Man müsse die Wähler dann vor die Frage stellen: "Wollt ihr die schwarze Republik?"

Das Stammland der SPD droht an die CDU zu fallen

Das zielt vor allem auf Nordrhein-Westfalen, das große Hindernis auf der Strecke zur Wiederwahl im Bund. Das Stammland der Sozialdemokraten droht in zwei Schritten an die CDU zu fallen, erst im Herbst in den Kommunen, landesweit dann im Mai 2005. Danach hätte die Union im Bundesrat eine Zwei-Drittel-Mehrheit, und das Wort von der Kanzlerdämmerung wäre wirklich berechtigt. Bis zur Bundestagswahl im Herbst 2006 könnten Schröder und die rot-grüne Koalition praktisch nichts mehr aus eigener Kraft entscheiden. Sie könnten sich nur noch durchschleppen bis zum bitteren Ende.

Die Vorzeichen sind denkbar schlecht. Bei der Europawahl verloren die NRW-Sozis 11,6 Prozentpunkte und damit noch stärker als im Bund; in Ruhrgebietsstädten wie Bottrop, Gelsenkirchen, Duisburg und Oberhausen - einst die viel beschworene "Herzkammer" der Sozialdemokratie - lagen die Verluste sogar zwischen 13 und 15 Prozentpunkten. Im "massiven Krach mit den Stammwählern" sieht SPD-Landeschef Harald Schartau seine Partei.

Die Spitzengenossen in NRW greifen inzwischen nach jedem Strohhalm. Sie sind nach der riesigen Fluchtwelle der letzten Jahre schon hochglücklich, wenn, wie im Mai geschehen, erstmals wieder 250 Menschen in die SPD ein- und nur 170 austreten. Und sie versuchen sich frohzureden, SPD-Sympathisanten hätten eben kein Interesse an Europa, wären aber bei der Kommunalwahl zu mobilisieren.

Das ist offensichtlich ein Trugschluss, wie der jüngste Sonntag zeigte. Wo zeitgleich zur Europawahl Stadträte und Kreistage gewählt wurden, verlor die SPD auch dabei fast überall deutlich.

Gute Nacht, SPD? Kanzler adieu? Gemach, "unsere Reformen brauchen Zeit, und die nächsten nationalen Wahlen sind in zweieinhalb Jahren", sagt Generalsekretär Benneter. "Ich sehe große Einsicht in der Partei, dass der eingeschlagene Weg gegangen werden muss", sagt Bundesgeschäftsführer Wasserhövel. "Wir müssen die Politik machen, die richtig ist für das Land", sagt Parteichef Müntefering. "Es gibt keine vernünftige Alternative zur Agenda 2010", sagt Bundeskanzler Schröder. So klingen Durchhalteparolen.

Einige träumen davon, den Kanzler auszuwechseln

Aber was sonst sollen sie machen? Aufgeben? Noch einmal den Kurs wechseln, Motto "Zurück in die Zukunft", und damit endgültig jede Glaubwürdigkeit verspielen? Alles keine Optionen. Einige träumen insgeheim davon, als letztes Mittel Schröder auch als Kanzler auszuwechseln - durch Müntefering oder Verteidigungsminister Peter Struck. Die beiden aber gelten nicht gerade als wählermassenwirksam und stehen zudem für keinen fundamental anderen Kurs als Schröder.

Nahles und andere Linke fordern, die "Solotänzer" aus dem Kabinett zu werfen - und haben dabei offensichtlich vor allem Regierungssponti Wolfgang Clement und Pannenproduzent Manfred Stolpe im Visier. Die Wirkung einer Kabinettsumbildung gilt dem Kanzler allerdings als fragwürdig - weil sie binnen Tagen verpuffen würde. Und der SPD-Chef hält sie nur dann für sinnvoll, wenn man "Wind unter den Flügeln" hat. Und das kann dauern.

Das eigentliche Dilemma der SPD lässt sich ohnehin in einem Satz zusammenfassen, der bald zehnjähriges Jubiläum feiert. Er stammt von Ex-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen und lautet: "Wir haben einfach keine Botschaft."

Stattdessen fühlen sich die Sozis schlicht saumäßig. Sigmar Gabriel nutzt gern diesen Vergleich: Statt überzeugt für die Sozialreformen zu werben, fühlten sich die Genossen wie "kleine Schweinchen", die verschüchtert darauf verweisen, dass die Union mit ihren Konzepten doch die viel größere Sau sei. "Wir übersehen dabei nur, dass Menschen entweder Schweinefleisch mögen - dann werden sie die große Sau kaufen. Oder sie sind Vegetarier - dann mögen sie auch das kleine Schweinchen nicht."

Im Prinzip bleibt der SPD nur eine winzige Resthoffnung. "Das Einzige, was uns helfen würde", ahnt Harald Schartau, "ist der Erfolg." Die sinkenden Krankenkassenbeiträge sollen den Leuten beweisen, dass die Zumutungen sich lohnen. Die anderen Regierungschefs, lobte sich Schröder selbst auf dem G8-Treffen, hätten ihm "große Bewunderung" für die Gesundheitsreform gezollt; "bedauerlicherweise" werde das im Ausland mit mehr Respekt zur Kenntnis genommen als in Deutschland.

Zudem bauen die Spitzengenossen darauf, dass der wieder brummende Exportmotor den deutschen Aufschwung insgesamt antreibt. Erste Anzeichen dafür gibt es sogar, nur will niemand daran glauben, weil Rot-Grün in den vergangenen Jahren zu oft hinausposaunt hatte, jetzt gehe es endlich aufwärts.

Müntefering ist durch Erfahrung gestählt

Außerdem ist Müntefering gestählt durch Erfahrung. Als er 1995 das erste Mal - damals als Bundesgeschäftsführer - in die Parteizentrale kam, hieß der Vorsitzende noch Rudolf Scharping, die SPD lag in Umfragen bei 31 Prozent, und jeder dachte, schlimmer könne es nicht werden. Dann wählten die Berliner - und die SPD landete bei 23,6 Prozent.

Als er 1999 das zweite Mal - diesmal als Generalsekretär - in die SPD-Zentrale kam, war der Partei ihr Vorsitzender Oskar Lafontaine von der Fahne gegangen, die SPD lag in Umfragen bei 28 Prozent, und jeder dachte, schlimmer könne es nun wirklich nicht mehr werden. Dann wählten die Sachsen - und die SPD strandete bei 10,7 Prozent.

Und beide Male hieß der Kanzler am Ende Gerhard Schröder. Nun ist Müntefering zum dritten Mal in der SPD-Zentrale und setzt darauf, dass sich Geschichte nicht nur einmal wiederholt.

Es muss wirklich so etwas geben wie Paralleluniversen in der Politik.

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Andreas Hoidn-Borchers und Lorenz Wolf-Doettinchem