"Ihre Erststimme für - natürlich! - Sabine." Die SPD-Bundestagsabgeordnete Sabine Bätzing (34) fleht auf ihrer Internetseite förmlich darum. Sie weiß weshalb: Bätzing muss am Sonntag um ihr Direktmandat im Wahlkreis Neuwied fürchten. Nicht deswegen, weil sie in den vergangenen vier Jahren als Drogenbeauftragte der Bundesregierung unnachsichtig für umfassende Rauchverbote in der Bundesrepublik gekämpft hat. Sondern wegen der Linkspartei.
Und das kommt so: Bei der Bundestagswahl 2005 eroberte Bätzing den Wahlkreis mit 44,3 Prozent der Erststimmen direkt, ihr CDU-Gegenkandidat kam auf 43,5 Prozent - lag damit allerdings nur um gut 200 Stimmen zurück. Die CDU holte allerdings 38,6 Prozent der Zweitstimmen, während die SPD nur auf 35,8 kam. Dass die CDU bei der Bundestagswahl wieder mehr Zweitstimmen bekommen wird, gilt als sicher. Gleichzeitig hat Bätzing hat so gut wie keine Chance, ihr Direktmandat zu verteidigen. Denn die Linkspartei bekam schon vor vier Jahren 5,1 Prozent. Jetzt tritt sie mit einem Kandidaten an, der gewerkschaftlichen Hintergrund mitbringt und konsequent gegen die SPD Wahlkampf macht. Gegen Bätzing operieren im Übrigen auch die Grünen. Das bedeutet: Die Erststimmen werden sich im linken Lager so weit verteilen, dass die SPD empfindlich geschwächt wird.
Das Geschacher um die Erststimmen
Hinzu kommt - und dies ist bundesweit der Fall -, dass die CDU-Kandidaten die FDP-Wähler darum bitten, ihnen doch ihre Erststimme zu spendieren. Schließlich strebe man in eine gemeinsame schwarz-gelbe Ehe. Zwar hat FDP-Chef Guido Westerwelle seine Wähler angewiesen, beide Stimmen seiner Partei zu geben. Dennoch wird ein Stimmensplitting zwischen CDU und FDP stattfinden. Wahlforscher gehen davon aus, dass über 50 Prozent der FDP-Wähler ihre Erststimme dem CDU-Kandidaten geben. Auf der anderen Seite der Parteienlandschaft steht die Tatsache, dass Wähler der Linkspartei allerhöchstens im Bereich von 10 Prozent ihre Erststimme dem SPD-Kandidaten geben werden. Sie wollen die SPD verlieren und in der Opposition sehen.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Fuchs, direkt gewählt in Bätzings Nachbarwahlkreis Koblenz, gibt der SPD-Konkurrentin daher keine Chance. Das Direktmandat werde an die CDU wandern. "Die 0,8 Prozent SPD-Vorsprung holen wir locker auf." Und er hält es durchaus für denkbar, dass die CDU in Rheinland-Pfalz, seit 15 Jahren vom Genossen Kurt Beck regiert, dieses mal per Erststimmen das eine oder andere Direktmandat mehr holt, als ihr nach Zweitstimmen zustünde. Weil sich die Situation der Sabine Bätzing auch andernorts wiederholen dürfte.
Überhangmandate können den Unterschied machen
Das Stichwort zu dieser Entwicklung, die am Sonntag sehr gut Wahl entscheidend für Schwarz-Gelb sein könnte, heißt: Überhangmandate. Sie entstehen, einfach definiert, wenn eine Partei in einem Bundesland mit den Erststimmen mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach den Zweitstimmen zustünde.
Beispiel: Bei der Bundestagswahl 1994 gewann die CDU in Baden-Württemberg alle 37 Wahlkreise und damit 37 Direktmandate. Bei den Zweitstimmen, die über die Sitzverteilung entscheiden, kam sie jedoch nur auf 43,3 Prozent. Dafür hätten ihr nur 35 Sitze im Bundestag zugestanden. Also bekam die CDU zwei Überhangmandate. Da sich diese Verschiebung auch in anderen Bundesländern wiederholte, die CDU insgesamt zwölf Überhangmandate bekam, die SPD jedoch nur vier, saß die CDU/CSU/FDP-Koalition am Ende mit zehn Mandaten Vorsprung im Bundestag. Nach Zweitstimmen abgerechnet wären es nur zwei Mandate gewesen. Statt 656 Angeordneten waren 672 im Parlament.
Lesen Sie im zweiten Teil, warum CDU und CSU mit vielen Überhangmandaten rechnen können und wie das die SPD findet.
Die Union wird massiv profitieren
Bisher hat sich die SPD nicht sehr an diesem Wahlsystem gestört. Denn 2005 bekam sie neun Überhangmandate, die CDU sieben. Das wird sich mit Sicherheit nicht wiederholen. Experten schätzen, dass die SPD von den 2005 direkt gewonnenen Mandaten wegen der Linkspartei bundesweit rund 50 an die CDU verliert. Die SPD käme dann, wenn überhaupt, allenfalls noch in Hamburg, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auf vielleicht sechs Überhangmandate. Die CDU kassiert dagegen mit Sicherheit in Baden-Württemberg und Sachsen ab, vielleicht auch in Rheinland-Pfalz und Thüringen. Kommt die CDU im Schwabenland - wie in der jüngsten Umfrage prognostiziert - nur auf 34 statt auf wie sonst üblich auf 40 Prozent, könnte sie allein dort acht Überhangmandate kassieren. Denn die Direktmandate dürfte sie wie in der Vergangenheit fast alle erobern.
Zusätzliches Ungemach droht der SPD aus Bayern, wo bislang keine Überhangmandate entstanden, weil die CSU bei Bundestagswahlen stets 50 Prozent oder mehr Zweitstimmen bekommen hat; da wirkt es sich nicht aus, wenn sie bis auf ein oder zwei Wahlkreise alle anderen direkt erobert. Zwei Überhangmandate mindestens würde jetzt indes fällig, so die CSU erneut wieder fast alle Direktmandate holt, aber bei den Zweitstimmen etwa bei 46 Prozent landete - in Bayern hat 2005 nur ein einziger SPD-Mann, Axel Berg in München, ein Direktmandat erringen können.
Sogar 44 Prozent könnten Schwarz-Gelb reichen
stern.de hat das Meinungsforschungs-Institut Forsa im Frühjahr gebeten, die vermutliche Verteilung der Überhangmandate bei der Bundestagswahl 2009 zu berechnen. Unterstellt wurde dabei folgendes Wahlergebnis: CDU 36 Prozent, SPD 24, FDP 14, Grüne 9, Linkspartei 11. Unterm Strich steht beim Blick auf Überhangmandate da ein klarer Sieg der CDU. Sie käme auf 11 Überhangmandate, die SPD fiele dagegen auf 6 zurück.
Andere Prognostiker gehen inzwischen von etwa 20 bis 30 Übergangsmandaten für die Union aus. Ein schönes Zusatzpolster für eine schwarz-gelbe Koalition, zumal Angela Merkel angekündigt hat, dieses Bündnis auch bei nur einer Stimme Mehrheit im Bundestag zu realisieren. Für die Wahlforscher von Infratest Dimap ist sogar denkbar, dass der schwarz-gelben Koalition sogar schon 44 Prozent der Zweitstimmen für eine Mehrheit an Sitzen im Bundestag genügen könnten.
Jetzt jammert die SPD
In der Vergangenheit hat sich die SPD nicht über diese Verschiebung des eigentlichen Wählerwillens durch das Wahlrecht beschwert. SPD-Chef Franz Müntefering klagt jetzt mit Blick auf den Wahlsonntag, man stelle sich vor, dass "durch verfassungswidrige Mandate eine bestimmte Regierungsbildung ermöglicht wird." Gemeint ist dabei natürlich eine CDU/CSU-FDP-Koalition. Doch die Forderung nach ersatzloser Abschaffung der Überhangmandate ist ihm reichlich spät eingefallen. Denn das Verfassungsgericht hatte bereits im Juli 2008 entschieden, dass das geltende Wahlrecht im Punkt der Übergangmandate verfassungswidrig ist, nur dort übrigens. Das System benachteilige kleine Parteien und bevorteile Volksparteien. Die Richter räumten für ein korrigiertes Wahlrecht allerdings eine Frist bis zum Juni 2011 ein.
Massiv gekämpft in der Koalition hat die SPD nicht für eine Wahlrechtsreform vor der Bundestagswahl. Die Parteiführung hätte, so rügen viele SPD-Politiker intern, in dieser Frage sogar den Bruch der Großen Koalition riskieren müssen. Jetzt jammert SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier, eine Mehrheit auf der Grundlage von Überhangmandaten "wäre keine stabile Mehrheit fürs Regieren." Thomas Oppermann, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion tönt sogar, wenn Merkel eine Mehrheit per Überhangmandate erobere, verfüge sie über eine "illegitime Mehrheit." Die Grünen reden inzwischen sogar für diesen Fall rüde von einer "geklauten Mehrheit."
Verfassungsminister Wolfgang Schäuble sieht das gelassen. Das sei ein klitzekleines Problem. "Wer die Mehrheit der Mandate hat, der bestimmt den Kanzler. So steht es im Grundgesetz." Und die führenden Verfassungsrechtler stimmen ihm zu: Überhangmandate sind nicht grundsätzlich verfassungswidrig. Gerügt am geltenden Recht wurden nur bestimmte Effekte. Das reiche nicht, dem kommenden Wahlergebnis den Stempel "verfassungswidrig" zu verpassen.