Als Fifa-Präsident Sepp Blatter dem Emirat Katar 2010 den Zuschlag zur Turnierausrichtung gab, ging ein Raunen um die Welt – das bis heute nicht verstummte. In den folgenden Jahren scheuten die Organisatoren weder Kosten noch Mühen, indem sie von Beginn an eine auf Hochglanz polierte PR-Mauer um Fußballfests in der Wüste zogen. Es ist die teuerste Weltmeisterschaft aller Zeiten. Mehr als 200 Milliarden US-Dollar hat sich der Wüstenstaat Katar die WM eigenen Angaben zufolge kosten lassen. Damit übertrifft das diesjährige Turnier die bis dato teuersten WMs in Brasilien 2014 (circa 15 Milliarden) und Russland 2018 (circa 11,6 Milliarden) um ein Vielfaches.
Doch der in Teilen absurde Auftakt am Sonntag hat gezeigt: Weder hypermoderne Arenen, noch bis zum Bersten gefüllte Marketingkassen können von den Skandalen abseits des Rasens ablenken. In den Wochen vor Anpfiff hat die Fassade der wohltemperierten Wohlfühloase reichlich Risse gezeigt. Im Folgenden nur einige Beispiele.
"One Love"-Kapitänsbinden: Gelbe Karte für Solidarität
Bereits im September hatten die Teams aus Deutschland, England, den Niederlanden, Belgien, Schweiz, Wales, Frankreich, Dänemark sowie Norwegen und Schweden (die beide nicht für die WM qualifiziert sind) eine gemeinsame Aktion angekündigt: Die Mannschaftskapitäne würden mit mehrfarbigen Armbinden und dem Schriftzug "One Love" in Katar auflaufen. Eigentlich ging es lediglich darum, ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Dass man für die Rechte von Homosexuellen und gegen jede Form von Rassismus einsteht. Wir haben mit langem Vorlauf die Fifa immer wieder darauf hingewiesen, dass wir mit dieser Binde auflaufen wollen, es gab keine Reaktion der Fifa dazu", sagte DFB-Präsident Bernd Neuendorf am Sonntag.
Selten hat ein bisschen Stoff solch eine Diskussion ausgelöst. Denn die Fifa, die gemeinsam mit den Veranstaltern eigene Kapitänsbinden (mit weitaus schwammigeren Botschaften) entworfen hatte, tat bis kurz vor knapp: nichts.
Wenige Stunden, bevor Englands Spielführer Harry Kane mit der Binde am Arm bei der ersten Partie der Three Lions gegen den Iran hatte auflaufen sollen, machten die Aktionsteilnehmer einen kollektiven Rückzug. "Die Fifa hat sehr deutlich gemacht, dass sie sportliche Sanktionen verhängen wird, wenn unsere Kapitäne die Armbinden auf dem Spielfeld tragen" hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Mit welchen "Sanktionen" der Weltverband neben Geldstrafen gegen die Landesverbände konkret gedroht hatte, ist unklar. Berichten zufolge hätten die Schiedsrichter dazu angehalten werden können, den Kapitänen noch vor Anpfiff die gelbe Karte zu zeigen, sollten sie mit der "One Love"-Armbinde auflaufen. Ein wiederholter Verstoß gegen das Verbot hätte wohl eine Sperre zur Folge gehabt.
Leere Ränge, volles Fan-Fest und Polizisten auf Kamelen

Gästeüberwachung: Zwang-Apps für Fußballtouristen
Um einige Spielstätten hatte Katar ganze Städte errichtet, wie unter anderem das US-Sportmagazin "Sportingsnews" berichtet. Allein um das Stadion in Lusail, nördlich von Doha, seien 22 Hotels, Wohnraum für 200.000 Menschen, ein Freizeitpark, zwei Jachthäfen und zwei Golfplätze hochgezogen worden. Ein Schlaraffenland.
Das hat jedoch seinen Preis. Wer in Katar einreist, ist zur Installation zweier staatlicher Apps verpflichtet. Die Corona-App "Ehteraz" soll der minutiösen Kontaktverfolgung dienen, mit der Software "Hayya" sollen die Besucher ihre Spiel- und Nahverkehrstickers verwalten können. Was an und für sich sinnvoll klingt, ist jedoch in Sachen Privatsphäre und Datensicherheit äußerst bedenklich. Sogar die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" warnte vor den Apps. Denn die können auf sämtliche Daten auf dem Smartphone zugreifen, WLAN- oder Bluetooth-Verbindungen überwachen und den genauen Standort auslesen. "Wer nach Katar zur WM fährt, der muss sich klar sein, dass er zum gläsernen Fan wird", sagte "11 Freunde"-Chefredakteur Phillip Köster im RTL-Interview.
Ausgeprostet: Alkoholverbot in und um die Stadien
Im streng muslimischen Katar ist der Konsum von Alkohol ohnehin stark eingeschränkt. Für Muslime steht hier öffentliche Trunkenheit unter Strafe.
Nun gehört für viele Fußballfans Alkohol aber einfach dazu. Das wissen natürlich auch die WM-Organisatoren sehr genau. In früheren Vereinbarungen mit der Fifa und der US-amerikanischen Brauerei Anheuser-Busch (Budweiser) mimte man lange Verständnis. Drei Stunden vor und drei Stunden nach Spielbeginn sei der Bierverkauf (wenn auch zu horrenden Preisen) gestattet, hieß es zuerst.
Wenige Tage vor Turnierbeginn dann der Schock für alle Hopfenliebhaber vor Ort: Die Vereinbarung wurde einseitig aufgehoben. Lediglich in den Abendstunden und nur auf der Fanmeile in Doha darf Alkohol gekauft und getrunken werden. Die Fifa gibt sich auch hier kurz vor Turnierbeginn wort- und machtlos.
Auch bei Budweiser kann man über das (teure) Hin und Her offenbar nur noch lachen:
Falsche Offenheit: Gefahr für homosexuelle Fans in Katar
Nach außen hin gab sich das Emirat nahezu krampfhaft weltoffen. Fußballlegende und Katars WM-Botschafter David Beckham bezeichnete das Turnier kürzlich sogar als Plattform für "Fortschritt und Toleranz". Den Worten des gut bezahlten PR-Maskottchens zum Trotz, sind in dem Staat auf der Arabischen Halbinsel homosexuelle Handlungen weiterhin verboten und können mit bis zu sieben Jahren Haft bestraft werden.
Ungeachtet dessen behauptete Emir Tamim bin Hamad Al Thani, dass alle Menschen bei der WM willkommen seien. An diese Linie der zur Schau gestellten Toleranz hielten sich jedoch nicht alle. Keine zwei Wochen vor Turnierbeginn nannte der katarische WM-Botschafter Khalid Salman in einem ZDF-Interview Homosexualität einen "geistigen Schaden". Von den vermeintlichen offenen Armen der Gastgeber lassen sich Menschenrechtsorganisationen erst recht nicht täuschen. Es bestehe ein hohes Risiko, dass das Zeigen von gleichgeschlechtlicher Liebe "geahndet wird", erklärte der Direktor von Human Rights Watch Deutschland, Wenzel Michalski, bei "Sky". Was immer Katar im Vorfeld zugesagt habe, spiele absolut keine Rolle.
"Warum können wir hier nicht filmen?": Dänischer Journalist bedrängt
"Sie haben die ganze Welt eingeladen, hierher zu kommen, warum können wir hier nicht filmen?", fragte der dänische Reporter Rasmus Tantholdt vergangene Woche inmitten einer Live-Reportage aus Doha. Lokale Sicherheitskräfte hatten trotz Drehgenehmigung das Journalistenteam an der Arbeit hindern wollen – und sogar gedroht, die Kamera zu zerstören.
Als hätte Katar kurz vor Turnierstart nicht ohnehin schon für ausreichend Negativschlagzeilen gesorgt. Da half auch die halbherzige Entschuldigung der WM-Organisatoren nicht.