Wie man Flüchtlinge als Waffen einsetzt, macht schon seit längerem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vor. 2016 hatte der sich bereit erklärt, sich um Abertausende von Syrern zu kümmern, die vor dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat fliehen. Sprich, sie von der EU fernzuhalten. Das ging lange gut, doch irgendwann drohte der Staatschef damit, die Grenzen Richtung Griechenland für die Migranten zu öffnen – wissend um die Zwickmühle, in die die neuen Migrantenströme die europäischen Länder bringen würden. Nun ist es der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko, der das Leben von Flüchtlingen als politisches Faustpfand nutzt.
Polen will sich nicht erpressen lassen
Seit Wochen sammeln sich an der Grenze von Belarus zu Polen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, in der Hoffnung auf Asyl in der EU. Doch die Warschauer Regierung macht im wahrsten Sinn dicht. Zum einen verfolgt sie schon lange einen strikten Anti-Einwanderungskurs, zum anderen will sie sich nicht vom Nachbarregime in Minsk erpressen lassen. Folge: Mindestens 2000 Menschen verharren bei eisigen Temperaturen mehr oder weniger schutzlos und ohne Unterkunft im Grenzgebiet auf belarussischer Seite, mehrere Menschen sind bereits erfroren. Belarussische Sicherheitskräfte drängen die Flüchtlinge Richtung Stacheldraht, den die Polen errichtet haben. Polnische Sicherheitskräfte wiederum drängen Migranten und Migrantinnen rüde zurück, sobald sie EU-Gebiet betreten – auch wenn diese "Push-Backs" illegal sind.
Wie also soll dieser Knoten aus Not, Politik und Zynismus zerschlagen werden?
Die Rolle von Belarus
"Wir verurteilen die orchestrierte Instrumentalisierung von Menschen, deren Leben und Wohlergehen von Weißrussland zu politischen Zwecken in Gefahr gebracht wurde, mit dem Ziel, Nachbarländer und die Außengrenze der Europäischen Union zu destabilisieren und die Aufmerksamkeit von seinen eigenen zunehmenden Menschenrechtsverletzungen abzulenken", heißt es in einer Erklärung einiger Staaten im UN-Sicherheitsrat. Auch Polen und die EU werfen Lukaschenko vor, gezielt Menschen aus Krisenregionen einfliegen zu lassen, um sie dann in die EU zu schleusen.
Neue Recherchen des "Spiegels" bestätigen die These. Das Magazin berichtet, dass die Zahl der Flugverbindungen vom Nahen Osten nach Minsk auf 40 gestiegen sei. Ein Airportmitarbeiter spricht im "Spiegel" von "täglich 400 Neuankömmlingen" aus der Region. In der belarussischen Hauptstadt sollen sich derzeit 15.000 Menschen aus Syrien und dem Irak aufhalten. Busse kutschieren die notleidenden Menschen dann an die Grenze zu Polen, wo sie eingezwängt in einer Art Niemandsland verharren müssen.
Die zuständigen Stäbe der Bundesregierung nennen die Situation eine "hybride Bedrohung", als Grund vermuten sie einen Rachefeldzug Lukaschenkos für die Sanktionen des Westens. Die Europäische Union hatte nach den gefälschten Wahlen 2020 eine Reihe von Strafmaßnahmen gegen Regimevertreter erlassen. Zudem ist der europäische Luftraum für belarussische Flugzeuge gesperrt, ebenso wie der Kapitalmarkt für Anleger aus dem autokratisch regierten Land.
Eine und die wohl schnellste wie einfachste Lösung des Konflikts besteht darin, dass Machthaber Alexander Lukaschenko aufhört, schutzlose Flüchtlinge aus dem Nahen Osten einzuschleusen.
Die Rolle der EU
Zäune aus Nato-Draht, mehr Polizisten an den Außengrenzen, Geld für Transit- und Herkunftsstaaten: Die europäische Flüchtlingspolitik erinnert an Flickschusterei statt an durchdachte Konzepte. Eine organisierte Verteilung von Geflüchteten in den Mitgliedsländern gibt es ebenso wenig, wie einheitliche Aufnahmekriterien. Polen zum Beispiel, an deren Grenze sich das humanitäre Drama abspielt, hat weder Interesse daran, sich um die Menschen zu kümmern und ist auch nicht verpflichtet, es zu tun. Der Einfluss der EU auf das Land ist in dieser Hinsicht also arg begrenzt, darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen der Regierung in Warschau und der in Brüssel zurzeit sehr angespannt.
Um Bewegung in die Lage an der polnischen Grenze zu bringen, hat der deutsche Außenminister Heiko Maas weitere Sanktionen gegen Belarus angekündigt. Auch Fluggesellschaften müssten gegebenenfalls mit Strafmaßnahmen rechnen. "Alle Airlines müssen wissen, wer sich der Mittäterschaft verbrecherischer Schleusungen schuldig macht, der wird mit Konsequenzen rechnen müssen, auch durch Sanktionen bei Überflugrechten oder Landegenehmigungen", so Maas. Die Ankündigung zeigt erste Wirkung: Als erstes Land verbot die Türkei Staatsangehörigen aus Syrien, dem Irak und dem Jemen Abflüge von türkischen Flughäfen nach Belarus. Belavia, die wichtigste belarussische Fluggesellschaft kündigte an, sich an die Anordnung zu halten.
Neben solchen Drohgebärden ist der Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, dabei, direkt mit Staaten im Nahen Osten zu verhandeln. Nach seiner Reise in den Libanon sagte er, es gebe "Fortschritt an allen Fronten". Nächste Woche stehen Besuche in weiteren Ländern an. Europa zähle gerade "in gewisser Weise seine Freunde und wir sind sehr froh, dass wir viele haben", sagte er.
Die EU steht in dem Konflikt vor einem Dilemma. Zwar könnten sich einzelne Länder wie Deutschland bereit erklären, die notleidenden Menschen aufzunehmen, damit aber würden sie das zynische Spiel Lukaschenkos mitspielen. Aber Tausende Migranten an ihren Grenzen in der Eiseskälte zu ignorieren, ist allerdings auch keine Lösung. Mutmaßlich werden die EU-Länder wieder ihre Schatullen öffnen, und sich Unterstützung in den Nahost-Staaten erkaufen.
Die Rolle Russlands
Das autokratische Regime in Belarus ist weitgehend vom Wohlwollen Russlands abhängig. Und dessen Präsident Wladimir Putin nutzt jede sich bietende Gelegenheit, um dem Westen eins auszuwischen. Den Flüchtlingskonflikt an der Grenze zu Polen dürfte er mit großer Freude beobachten. So ist es wohl kaum Zufall, dass beide Staaten gemeinsame Militärübungen in Nähe der polnischen Grenze angekündigt haben. Das Verteidigungsministerium in Minsk begründete den Schritt mit der "Zunahme militärischer Aktivität" nahe der belarussischen Grenze.
Von Lukaschenkos Drohung, im Falle neuer EU-Sanktionen Gaslieferungen nach Europa zu stoppen, hat sich der Kreml jedoch distanziert. Russland "ist und bleibt ein Land, das alle seine Verpflichtungen zur Lieferung von Gas an die europäischen Verbraucher erfüllt", heißt es im Kreml. Die Jamal-Europa-Pipeline, die russisches Gas nach Europa transportiert, verläuft auch durch belarussisches Gebiet.
In der Angelegenheit hat Noch-Kanzlerin Angela Merkel mehrfach mit dem russischen Präsidenten telefoniert. Zuletzt bat sie um ein Eingreifen Moskaus in den Konflikt. Nun erklärte sich Putin zwar dazu bereit, plädierte aber für eine Wiederherstellung der Kontakte zwischen der EU und Belarus. Denn die EU erkennt Machthaber Lukaschenko nach der als gefälscht geltenden Präsidentenwahl im vergangenen Jahr nicht mehr als Staatschef an.
Vermutlich könnte Wladimir Putin die Angelegenheit mit einem Anruf bei seinem Verbündeten Lukaschenko aus der Welt schaffen. Doch das Telefonat gäbe es nicht umsonst. Er dürfte verlangen, dass die EU den belarussischen Machthaber als legitimen Präsidenten anerkennt, zudem fordert Moskau unter anderem ein Entgegenkommen des Westens im Ostukraine-Konflikt.
Quellen: DPA, AFP, "Spiegel", "Tagesspiegel"