Gibt es nun eine Antwort auf die Frage, an der sich seit Kriegsbeginn auch die selbstbewusstesten Putin-Apologeten die Zähne ausbeißen? Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine geht in den 96. Tag, die Frage bleibt: Was will der russische Präsident, wann könnte er sich womit zufrieden geben? Weder scharfe Sanktionen gegen sein Land, noch weitreichende Waffenlieferungen an die Ukraine konnten den Kremlherrscher bisher von seinem Kriegskurs abbringen oder zu Zugeständnissen bewegen.
Insofern lässt nun ein Interview seines Außenministers aufhorchen, worin er die Einnahme des ostukrainischen Donbass als "bedingungslose Priorität" bezeichnete. Es gehe darum, die ukrainische Armee und Bataillone aus den von Moskau als unabhängige Staaten anerkannten Gebieten Donezk und Luhansk zu drängen, sagte Sergej Lawrow dem französischen Sender TF1. Das russische Außenamt veröffentlichte die Antworten am Sonntag auf seiner Internetseite.
Damit hat Lawrow die Einnahme der Region zum zentralen Kriegsziel erklärt. Ist das schon ein Zugeständnis, gar ein Hinweis darauf, dass Russland von seinen anderen Absichten in der Ukraine abrücken könnte?
"Die Aussage von Sergej Lawrow ist nur die Bestätigung dessen, was vor einigen Wochen schon entschieden worden ist", winkt Gerhard Mangott ab. "Die Vorstöße in der Nordukraine um Kiew mussten aufgrund von Rückschlägen abgebrochen werden, daher konzentriert sich Russland nun auf den Donbass im Osten des Landes", so der Politologe und Russland-Experte von der Universität Innsbruck zum stern.
"Die Eroberung des Donbass ist ein absolutes Minimalziel der russischen Seite"
Russland hatte zu Kriegsbeginn drei zentrale Kriegsziele formuliert:
- Die Anerkennung der annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisches Territorium
- Die Anerkennung der ostukrainischen Separatistengebiete als unabhängige Staaten
- Die Neutralität der Ukraine
Allerdings war der russische Feldzug von allerhand Rückschlägen gezeichnet, die Offensive geriet ins Stocken, die Truppen mussten sich vielerorts zurückziehen. Entsprechend kleinlaut fiel die Rede von Präsident Putin zum "Tag des Sieges" am 9. Mai aus. Viele Beobachter gingen davon aus, dass der fanatische Geschichts- und Zahlenfreak Putin den historisch aufgeladenen Tag dafür nutzen könnte, das eigene Kriegstreiben als Erfolg zu verkaufen und noch weiter zu eskalieren. Putin feierte zwar seinen Feldzug, doch die Kriegsbilanz war keine Erfolgsgeschichte.
"Die Eroberung des Donbass ist ein absolutes Minimalziel der russischen Seite", sagt Politologe Mangott. Der angebliche Völkermord an Russen in der Region sei schließlich eine zentrale Begründung des Krieges gewesen. Schon vor dem Einmarsch russischer Truppen streute Putin die Propagandalüge, in der Ostukraine käme es zu einem "Genozid" an der russischsprachigen Bevölkerung. "Bei dieser Kriegspropaganda ist Russland daher geradezu verpflichtet, den Donbass einzunehmen", so Mangott. Ob es Russland gelingen wird, Luhansk und Donezk vollständig einzunehmen, hänge nun davon ab, wann neue schwere Waffen in die Ukraine gelangen würden.
Russland wird kaum von seinen anderen Kriegszielen abrücken
Verlieren ist für Putin keine Option, zum Leidwesen der Ukraine: Er muss Erfolge vorweisen, um seinen Krieg zu rechtfertigen – der schon jetzt Tausende tote Soldaten zur Folge hat, während die russische Bevölkerung unter Sanktionen und Inflation leidet.
Vor diesem Hintergrund sind auch Lawrows Äußerungen mit Skepsis zu betrachten, wonach einzig die Eroberung des Donbass Priorität habe. In anderen Gebieten der Ukraine, in denen Russland eine "militärische Operation" durchführe – so der russische Euphemismus für den Angriffskrieg – müssten die Bewohner selbst über ihre Zukunft entscheiden, sagte Lawrow in dem Interview.

"Was Lawrow nicht sagt, aber auch zu den russischen Kriegszielen gehört: Die besetzten Gebiete im Süden, also Cherson und Saporischschja, nicht mehr aufzugeben, um die Landbrücke zur Krim zu verteidigen", analysiert Mangott. "Das ist sicherlich das zweite wichtige Kriegsziel Russlands."
Lawrows Aussagen seien ohnehin "zynisch", meint der Russland-Experte. In Cherson und den besetzten Teilen von Saporischschja werden Referenden vorbereitet, deren Ausgang von vornherein feststehe: Dass die Gebiete an die Russische Föderation angegliedert und zu russischem Staatsgebiet werden. Im Donbass halte man vorerst an der Fiktion fest, dass es unabhängige Staaten werden.
Schon seit Wochen lässt sich in Cherson beobachten, wie Russland die Identität von Stadt und Einwohnern tilgen will, indem es nach der Annexion der Krim offenkundig die nächste Grenzziehung vollzieht – in den Köpfen, dem Portemonnaie, im Stadtbild, der Administrative. Die in Cherson neu ernannten pro-russischen Behördenvertreter hatten bereits den Wunsch geäußert, dass die Region an Russland angeschlossen wird. Dort und im Gebiet Saporischschja haben die moskautreuen Behörden nach einem Erlass Putins über die vereinfachte Verleihung russischer Staatsbürgerschaften nun mit der Vergabe von Pässen begonnen.
Wird sich Putin mit der Eroberung des Donbass zufrieden geben? "Nein", sagt Politologe Mangott, "Russland wird nicht von seinen anderen Kriegszielen ablassen." Russland sei aktuell nicht in der Situation, Zugeständnisse machen zu müssen oder in Verhandlungen zu gehen. Noch sei das Land in der Lage, militärische Geländegewinne zu erzielen. "Zu Verhandlungen kommt es wahrscheinlich erst, wenn beide Seiten keine Vorteile mehr auf dem Schlachtfeld erwarten – und davon sind beide Seiten gerade weit entfernt", so Mangott. "Überhaupt sind die Positionen Russlands und der Ukraine so weit entfernt wie noch nie seit Kriegsbeginn."