Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, war für viele in der Europäischen Union klar, dass man mit Moskau und Putin nicht mehr gemeinsame Sache machen wollte. Sanktionen wurden verhängt, Importe eingeschränkt oder ganz gestoppt. Das galt auch für russisches Erdgas, das die EU vor der Invasion in großen Mengen gekauft hatte.
Schnell mussten andere Lieferanten her, denn die EU ist stark von Erdgasimporten abhängig; Gas musste eingespart werden. Auch Deutschland suchte nach neuen Möglichkeiten: Flüssiggas sollte her, in Mecklenburg-Vorpommern wurde ein LNG-Terminal eröffnet, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck putzte Klinken in Katar.
Auf EU-Ebene paktiert man in Sachen Erdgas mit engen Partnern wie Norwegen. Aber auch aus Aserbaidschan, dem öl- und gasreichen Staat im Südkaukasus, will man mehr Gas, um unabhängiger von Russland zu werden.
EU soll mehr Gas aus Aserbaidschan bekommen
Bereits Anfang Februar 2022 bot die EU Aserbaidschan im Zuge der zunehmenden Aggressionen Russlands gegen die Ukraine an, die Gaslieferungen über Pipelines durch die Türkei und Georgien in Richtung Adria zu erhöhen.
Wenige Monate später, im Juli, trafen sich EU-Kommissarin Ursula von der Leyen und der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew in der dessen Hauptstadt Baku. Von der Leyen bezeichnete das Land als "wichtigen Energiepartner", der "schon immer verlässlich" gewesen sei – ähnliches war vor dem Kriegsbeginn auch regelmäßig über Russland zu hören.
Beide Seiten unterzeichneten eine Absichtserklärung: Die Gaslieferungen aus Aserbaidschan in die EU sollen verdoppelt, der südliche Gaskorridor ausgebaut werden. Als von der Leyen in Baku sprach, lieferte dieser Korridor nach ihren Angaben mehr als acht Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr. "Und wir werden die Kapazität in wenigen Jahren auf 20 Milliarden Kubikmeter erhöhen. Schon im nächsten Jahr sollen es zwölf Milliarden Kubikmeter sein", sagte von der Leyen damals. Das Ziel von 20 Milliarden soll bereits 2027 erreicht werden – rund 18 Prozent des jährlichen Bedarfs, schreibt die Nachrichtenseite "Politico".
Angriff auf Bergkarabach: Kritik an EU-Gas-Deal
Ein Deal, der schon damals umstritten war. Denn Aserbaidschan steht wegen Bürger- und Menschenrechtsverletzungen sowie mangelnder Pressefreiheit in der Kritik. Alijew gilt als autoritärer Präsident. Laut Freedom House Index gilt Aserbaidschan als "nicht frei" und laut Human Rights Watch stehen Regimekritiker unter starkem Druck.
Angriff auf Bergkarabach: Darum geht es im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan

Pro-armenische Rebellen brachten das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet Ende der 80er Jahre mit Eriwans Unterstützung unter ihre Kontrolle. 1991 erklärte Bergkarabach nach einem Referendum seine Unabhängigkeit. Diese wird international jedoch bis heute nicht anerkannt.
Am Dienstagmorgen hatte das autoritär geführte Aserbaidschan eine Militäroperation zur Eroberung Bergkarabachs begonnen. Nach rund eintägigem Beschuss mit Dutzenden Toten und Verletzten handelten Aserbaidschan und Karabach-Vertreter am Mittwoch einen Waffenstillstand aus. Bedingung von aserbaidschanischer Seite ist die Kapitulation der armenischen Kämpfer. Der jüngste Angriff hat die Kritik am Gas-Deal neu entfacht und ihn zu einem brisanten Thema für die EU gemacht.
In Deutschland forderte etwa die Linkspartei, Druck auf Aserbaidschan auszuüben, um das militärische Engagement in der Konfliktregion Bergkarabach zu stoppen. "Die Bundesregierung muss darauf hinwirken, dass alle bisherigen Abkommen zwischen der EU und Aserbaidschan ausgesetzt werden, solange der Krieg andauert", sagte Parteichef Martin Schirdewan am Donnerstag in Berlin.
Aserbaidschan noch kleiner Player auf dem Gasmarkt
Das Gasabkommen soll den Anteil Aserbaidschans an der EU-Gasversorgung zusätzlich erhöhen. 2022 lag er laut Kommission nur bei etwa drei Prozent. Präsident Alijew sagte im Dezember, die Gasexporte seines Landes nach Europa würden von geschätzten 11,3 Milliarden Kubikmetern auf "mindestens" 11,6 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2023 steigen. Im vergangenen Jahr habe die ehemalige Sowjetrepublik 8,2 Milliarden Kubikmeter des Brennstoffs nach Europa geliefert, fügte er laut der Nachrichtenagentur Reuters hinzu.
Dabei sind die Gasimporte aus Aserbaidschan in die EU seit dem Abkommen der beiden Partner bereits sprunghaft angestiegen, wie Zahlen der Statistikbehörde Eurostat zeigen:
Bei den Gasexporten in die EU ist Aserbaidschan allerdings noch ein eher kleiner Player. Nach Zahlen des Energieinstituts lieferte das Land am Kaspischen Meer im Jahr 2022 11,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas in die EU. Prozentual lag der Anteil Aserbaidschans bei knapp über drei Prozent. Mehr liefern in diesem Zeitraum Norwegen, Algerien, andere europäische Staaten und auch Russland:
Auch in Deutschland ist Gas aus Aserbaidschan noch nicht auf der Liste der Gaslieferanten, wie die Daten der Bundesnetzagentur zeigen.
In den vergangenen Jahren war Aserbaidschan ein relativ kleiner Gasexporteur, vor 2020 habe nur Griechenland Gas importiert, schrieb das britische Forschungsinstitut Royal United Services Institute for Defence and Security Studies im Oktober. Das könnte sich mit dem 2022-Abkommen ändern. Aserbaidschan wolle seine Produktion erhöhen. Zudem dürfe man das "bescheidene Volumen" nicht kleinreden. Der Gasmarkt sei geografisch stark fragmentiert und der Transport teuer. Aserbaidschan liege in der Sphäre der EU, vor allem die südlichen Länder der Union könnten profitieren.
Zur Frage möglicher EU-Sanktionen gegen Aserbaidschan wegen des Militäreinsatzes sagte ein EU-Sprecher, die Europäische Union verfolge die Situation sehr genau und die Mitgliedstaaten würden je nach Entwicklung vor Ort über weitere Schritte entscheiden.
Insgesamt dürfte eine Aussetzung des Gasabkommens zwischen der EU und Aserbaidschan aber nur geringe Auswirkungen haben. Bis November 2022 konnte die EU den Anteil russischer Gasimporte bereits auf knapp dreizehn Prozent reduzieren, wie aus Daten der Europäischen Kommission hervorgeht. Von Januar bis November 2022 kam der Großteil der Gaslieferungen als LNG aus den USA, Katar und Nigeria, als natürliches Erdgas aus Norwegen, Algerien und Russland. Aserbaidschan wird nicht explizit aufgeführt und fällt in den Daten unter "Andere".
Quellen: Eurostat, Energy Institute, Statista, Bundesnetzagentur, Nachrichtenagentur Reuters und DPA, Freedom House, Human Rights Watch, Europäische Kommission, Europäischer Rat / Rat der Europäischen Union, "Politico", Royal United Services Institute for Defence and Security Studies, Der Neue Kosmos Weltalmanach & Atlas 2023